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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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aus, das er von zu Hause mitgebracht hatte. Eine halbe Stunde hatte er Ruhe.
    Und während er sein Brot aß, dachte er an Henning. Denn das, was sie für immer zusammengeschweißt hatte, war nicht nur intensive Freundschaft, sondern ein Verbrechen.
     
    Engelbert und Henning hatten sich 1967 auf einer Demo gegen den Schahbesuch kennengelernt und wohnten zusammen in einer Altbauwohnung in Steglitz. Engelbert studierte Jura an der Freien und Henning Maschinenbau an der Technischen Universität.
    »Hör zu«, sagte Henning eines Morgens brummig zu Engelbert, »im Moment geht mir hier alles tierisch auf den Geist. Die endlosen Demos, die politischen Veranstaltungen, die Podiumsdiskussionen – steht mir alles bis hier!« Damit zeigte er mit der flachen Hand auf eine Stelle oberhalb seines Scheitels. »Ich krieg gar nicht mehr zusammen, wie viele Demos und Veranstaltungen wir gegen die Notstandsgesetze schon besucht haben. Und? Hat es was genützt? Nein.«
    »Na gut, den Kongress in Frankfurt hätten wir uns vielleicht sparen können.«
    »Nicht nur den. Engelbert, ich hab’s satt. Fertig. Hab die Faxen dicke.«
    So destruktiv hatte Engelbert Henning noch nie erlebt. Sonst war er immer die treibende Kraft und war oft genug allein irgendwohin gegangen, wenn Engelbert eine Arbeit schreiben musste.
    »Ich will hier einfach mal raus. Ans Meer. Kleiner Naturschock. Ein bisschen Wind um die Nase wehen lassen.«
    »Verstehe.« Engelbert kaute an seinem Brillenbügel.
    »Kommst du mit?«
    »Wohin denn?«
    »Zu meinen Eltern nach Friesland. Im Haus gibt’s eine Ferienwohnung, die ist im Moment nicht vermietet, ich hab gestern mit meiner Mutter telefoniert. Da können wir pennen.«
    »Wann willst du denn fahren?«
    »Sofort. Wann denn sonst?«
    Engelbert wand sich. »Ich habe nächsten Dienstag noch’ne Klausur. Meine letzte.«
    Hennings Blick verfinsterte sich. »Ist die wichtig?«
    »Schon. Ich hab drei Monate dafür gearbeitet.«
    »Gut. Dann schreib deine blöde Klausur, aber Mittwoch fahren wir los. Einverstanden?«
    »Einverstanden.« Engelbert schlug in die offene Hand ein, die Henning ihm entgegenstreckte.
     
    Mit den Fahrrädern brauchten sie gut zehn Minuten bis zum Deich, da sie gegen den Wind fahren mussten. Sie kamen am Siel vorbei, das Wasser glitzerte in der Sonne wie ein klarer See.
    »Kann man darin baden?«, schrie Engelbert.
    »Ja. Kann man!«, brüllte Henning zurück.
    Oben auf dem Deich traf sie der Wind mit voller Wucht. Es war Flut, und das Meer hatte weiße Schaumkronen.
    »Windstärke sieben bis acht, schätze ich mal. Ist das nicht herrlich?« Hennings Augen glänzten. »Ab und zu muss man sich richtig durchpusten lassen, das rückt im Kopf so manches wieder gerade.«
    Engelbert dachte mit Schrecken daran, noch weitere ein bis zwei Stunden am Deich entlangradeln zu müssen. Denn so euphorisch, wie Henning jetzt war, würde er sicher nicht bald zurückfahren wollen. Obwohl es Ende Juni war, bereute Engelbert, keinen Schal oder zumindest ein Halstuch dabei zu haben. Als Kind hatte er ständig unter Halsentzündungen und Ohrenschmerzen zu leiden gehabt, und er spürte bereits jetzt, wie sein Hals sich zusammenzog. Er bemühte sich, nicht durch den Mund zu atmen, hielt den Lenker nur mit der rechten Hand und versuchte, mit der linken seine Jacke am Hals zusammenzuhalten. Dadurch hatte er allerdings weniger Kraft, in die Pedale zu treten, und blieb ständig hinter Henning zurück.
    Schnurgerade zog sich der Deich dahin, die gepflasterte, einspurige Straße schien am Horizont zu verschwinden und kein Ende zu nehmen. Sie war vollgekleckst mit Schafsköteln, denen Engelbert auszuweichen versuchte, was die Fahrerei mit einer Hand noch schwieriger machte. Ein paar Möwen segelten tief über dem Wasser und schrien heiser. Engelbert merkte, dass seine Kondition nicht die beste war, und er sehnte sich nach einer Tasse Tee, einem Sessel und einem Buch. Auch wenn es das Handbuch zum Arbeitsrecht war, das er im Moment durcharbeitete. Allemal besser, als am Deich entlangzuradeln, der keinerlei Abwechslung bot. Es sei denn, man erahnte am Horizont ein vorbeifahrendes Schiff.
    Alle paar Hundert Meter mussten sie absteigen, ein Gatter öffnen und ihre Fahrräder hindurchschieben. Eine Absperrung, damit sich die Schafe, die in verschiedenen Sektionen grasten, nicht über ganz Nordfriesland verteilten.
    »Gefällt es dir?«, fragte Henning beim dritten Gatter.
    Engelbert nickte nur stumm.
    »Du wirst sehen, wenn wir nach

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