Der Menschenraeuber
auch schon eine erhebliche Verbesserung.
»Soll ich eine gerichtsmedizinische Untersuchung beantragen?«, fragte der Arzt.
»Nein. Wenn wir jeden Unfall wie einen Meuchelmord behandeln würden, hätten wir viel zu tun!« Neri stellte auf stur.
Genau so hatte Jonathan Neris Reaktion eingeschätzt, als er Gianni bat, seinen Vater anzurufen. Er jubelte innerlich und konnte seine Erleichterung kaum verbergen.
Sofia hatte aufgehört zu weinen und klammerte sich an ihn.
»Erzählen Sie doch mal, Jonathan«, bohrte Alfonso, »was ist heute Morgen passiert? Und wie und wann haben Sie den Toten gefunden?«
»Also …« Jonathan führte Sofia zu einer Brüstung, auf der Geranientöpfe standen, und bat sie, sich zu setzen. Er musste sich jetzt konzentrieren, und es störte ihn, sie unentwegt im Arm zu halten.
»Wir hatten gestern ein sehr nettes gemeinsames Abendessen«, begann er, »das Sofia und ich aber relativ früh verließen, da ich mir irgendwie den Magen verdorben hatte und mich nicht richtig wohlfühlte. Heute Morgen rief Dr. Kerner an und bat mich herunterzukommen, weil es im Haus kein Wasser gab.«
»Und dann?«, fragte Alfonso weiter und drehte am Außenhahn, der über dem Steintrog angebracht war und vor allem beim Gießen benutzt wurde. Es kamen drei Tropfen Wasser, dann blieb der Hahn trocken.
Jetzt wurde es schwierig. Dadurch, dass völlig unvermutet dieser blödsinnige Gianni aufgetaucht war, der ansonsten nie zu finden war und immer durch Abwesenheit glänzte, hatte Jonathan keine Zeit gehabt, sich die Geschichte in Ruhe zurechtzulegen. Er spürte, dass ihm der Schweiß ausbrach.
»Ich ging also zum Haus hinunter, habe ziemlich laut ›Herr Dr. Kerner!‹ gerufen, bekam aber keine Antwort. Ich glaube, ich rief sogar ein paarmal, ich weiß es nicht genau. Jedenfalls ging ich dann einfach am Badezimmer vorbei um die Hausecke herum und sah nach ein paar Schritten den Mann auf der Erde liegen. Ich hab einen fürchterlichen Schreck gekriegt, bin zu ihm hingerannt, und da hab ich auch schon das ganze Blut gesehen.«
»Lebte er noch?«
»Ja. Er konnte nichts sagen, aber er röchelte ganz fürchterlich. Wenn er diese Geräusche nicht gemacht hätte, hätte ich gedacht, er wäre tot, denn seine Augen waren weit offen und ganz starr. Er bewegte die Lider nicht, blinzelte nicht ein einziges Mal, und das war schrecklich.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich konnte kaum sprechen, so hab ich gezittert. Ich weiß auch nicht mehr, was ich genau gesagt habe, ich glaube, so etwas wie: nicht bewegen, gleich kommt der Arzt, keine Angst, es wird alles wieder gut … Aber dann hab ich schon gesehen, dass seine Augen so merkwürdig wegkippten, dann wurde sein Blick ganz glasig, und dann war er tot.«
»Woran haben Sie das gemerkt?«
»Na, weil er nicht mehr atmete!«, brüllte Jonathan. »Ich hab ihn angesprochen, hab ihn berührt, hab ihn ganz zart in die Wange gekniffen – er hat auf nichts reagiert. Vielleicht war er auch nicht tot, kann ja sein, ich dachte jedenfalls, dass er tot ist. Und in diesem Moment tauchte Gianni auf, und ich hab ihn gebeten, seinen Vater anzurufen. Ich selbst habe den Rettungsdienst alarmiert.«
»Warum denn den Rettungsdienst, wenn Sie doch dachten, er wäre tot?«, hakte Alfonso stur und emotionslos nach, und Jonathan hasste ihn in diesem Moment.
»Himmelherrgott nochmal! Was sollte ich denn machen? Ich war völlig durcheinander! Natürlich dachte ich, dass er tot ist, aber ich wollte nicht, dass mir hinterher irgendjemand vorwirft, ich hätte nicht alles versucht, ihn zu retten! Es dauert immerhin lange genug, bis der Rettungsdienst auf La Passerella ist!«
Jonathan war mit den Nerven fertig. Neri legte ihm die Hand auf den Arm. »Bitte, reg dich nicht auf. Niemand macht dir irgendeinen Vorwurf. Du hast getan, was du konntest. Wir werden jetzt Ivo anrufen, damit er die Leiche abtransportiert.«
Ivo war der örtliche Bestattungsunternehmer, der Einzige im Ort, der seinen Mitbürgern keine gute Gesundheit und ein langes Leben wünschte, sondern in der Bar della Piazza saß und darauf wartete, dass er den nächsten Toten mit den Füßen voran aus seiner Wohnung holen durfte. Jeden Sonntag betete er in der Kirche um die Gnade des Todes, nicht für sich selbst, sondern für seine Mitmenschen, aber Gott erhörte ihn nicht oft, die meisten Menschen in Ambra erreichten ein biblisches Alter. Wenn jemand im Dorf blass und krank aussah und wirkte, als würde er jeden Moment tot umfallen,
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