Der Menschenraeuber
höchster Not, so viel war ihr klar.
Sie lief los, rannte zur Capanna, so schnell ihr das mit ihrer Behinderung überhaupt möglich war. Zweimal stürzte sie, aber sie rappelte sich auf und lief weiter.
»Fahr zur Hölle«, sagte Jonathan knapp, nahm die blutige Stelle am Hinterkopf genau ins Visier, holte aus und schlug ihm den Stein ein letztes Mal mit voller Wucht in die Wunde.
Engelbert bäumte sich stöhnend auf. Sein Gesicht war blutüberströmt, und sein immer noch angstverzerrter Blick wurde langsam glasig und trüb.
Jonathan drehte ihn zurück auf den Rücken, so dass es aussah, als wäre er mit dem Hinterkopf auf die scharfe Kante der untersten Treppenstufe aufgeschlagen.
Auge in Auge mit seinem Mörder hörte Engelbert auf zu atmen und sackte in sich zusammen.
Jonathan rannte zum Wasserhahn an der Hauswand, unter dem ein steinerner Trog stand, und wusch das Blut vom Stein und von seinen Händen. Dann warf er den Stein so weit er konnte ins Dickicht. Es hatte ihn immer geärgert, dass unterhalb des Hauses seit Jahren, vielleicht sogar seit Jahrzehnten die meterhohe Erika und der dichte Weißdorn nicht mehr gerodet worden waren, jetzt war er dankbar dafür.
GUT GEMACHT, PAPA. ICH LIEBE DICH.
»Herr Dr. Kerner?«, rief Sofia. »Ist etwas passiert, kann ich Ihnen helfen?«
Totenstille. Niemand antwortete, Jonathan rührte sich nicht.
»Dr. Kerner?«
Sofia fühlte sich unglaublich hilflos, wusste nicht, was sie tun sollte, wagte sich vorsichtig vor und ging langsam weiter um das Haus herum bis zur Treppe.
Die Sonne gewann allmählich an Kraft und verstärkte die Gerüche. Blut. Sie roch eindeutig Blut. Aber da war auch noch der Geruch, den sie so gut kannte: nach warmem Honig, Federn, Zimt und Borkenrinde.
»Jonathan!«, rief sie. »Bist du hier? Was ist passiert?«
Keine Reaktion. Vögel sangen, und aus dem Tal drangen Autogeräusche bis hier herauf.
Es klang, als wäre sie allein, aber sie spürte, dass doch ein Mensch in der Nähe war.
In diesem Moment tauchte Gianni an der Hausecke auf.
»Was ist denn hier los?«, fragte er und kniff die Augen zusammen, als sähe er direkt in die Sonne und bräuchte außerdem eine Brille.
»Wie lange stehst du da schon?«, schrie Jonathan, aber Gianni zuckte nur die Achseln, als könne er zwei Minuten von zwei Sekunden nicht unterscheiden.
Sofia wurde es eiskalt. Jonathan war also doch da, hatte aber auf ihr Rufen und Fragen nicht reagiert. Er hatte sie einfach ignoriert, hatte sich vor ihr verstecken wollen.
»Jonathan! Was ist hier los? Warum antwortest du mir nicht?«
»Dr. Kerner ist die Treppe runtergefallen!« Jonathans Ton klang sachlich, da war kein Entsetzen in seiner Stimme.
Gianni nickte.
»Ich glaube, er ist tot!«
Gianni nickte erneut.
»Ruf deinen Vater an, Gianni! Er soll sofort herkommen, ich telefoniere mit der Dottoressa!«
Gianni nickte und zog sein Handy aus der Hosentasche. Zum Telefonieren wandte er sich ab und ging hinter die Hausecke.
Jonathan rief dann doch nicht die Dottoressa an, sondern den Rettungsdienst, der nur kam, wenn es um Leben und Tod ging, bei Herzinfarkten, Schlaganfällen, akuten Vergiftungen, Atemstillstand oder Ähnlichem. Es war zwar völlig klar, dass es hier nichts mehr zu retten gab, aber egal. Er wollte, dass es so aussah, als habe er nichts unversucht gelassen.
Gianni kam wieder hinter dem Haus hervor und nickte zum hundertsten Mal.
»Er kommt«, sagte er knapp.
»Jonathan!« Sofia fühlte sich vollkommen kraftlos. Sie konnte nicht mehr stehen und rutschte langsam die Natursteinwand hinunter, ohne zu merken, dass sie sich dabei den Rücken aufschürfte. Völlig erschöpft saß sie auf der Erde.
»Jonathan, bitte!« Ihre Stimme war ungewohnt hoch und schien zu kippen. »Bitte erklär mir, was hier passiert ist!«
»Es war ein Unglück, Sofia, ein fürchterliches Unglück, so wie es jeden Tag tausendfach passiert. Niemand kann etwas dafür. Wenn du willst, geh nach Hause, du kannst nicht helfen. Hier kann niemand mehr helfen.«
FÜNFUNDZWANZIG
Erst fünfundvierzig Minuten später trafen Neri und sein Kollege Alfonso auf La Passerella ein. Alfonso war fünf Jahre jünger als Neri und mit seinem Polizistendasein in Ambra vollkommen zufrieden. Er war am Ziel seiner Wünsche angelangt, träumte von keiner anderen Stadt und keiner großen Karriere. Die Menschen in Ambra mochten und akzeptierten ihn, und wenn er hin und wieder ein Auge zudrückte, so geschah dies nie zu seinem Nachteil.
Als
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