Der Menschenraeuber
dann war es Ivo selbst.
»Was ist mit seiner Frau?«, bemerkte Sofia mit leiser Stimme. »Ihr könnt ihn doch nicht wegbringen, ohne dass sie von ihm Abschied genommen und überhaupt begriffen hat, was passiert ist!«
»Stimmt. Da hat sie Recht.« Neri sah Jonathan an. »Hat die Signora ein Handy, und weißt du die Nummer?«
Jonathan schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Ahnung. Wir haben uns ja im Grunde auch erst gestern Abend ein wenig kennengelernt.«
»Also warten wir. Wäre es vielleicht möglich, dass wir ein Laken über den Toten decken?«
»Natürlich!« Jonathan lief ins Haus. Im Schlafzimmer stand eine Truhe, in der die frische Bettwäsche aufbewahrt wurde. Jonathan nahm ein Laken heraus, lief zurück zu der Leiche und deckte das Tuch vorsichtig, fast zärtlich über den Toten.
PRIMA, PAPS. ES HAT ALLES FABELHAFT GEKLAPPT.
»Brauchen Sie uns noch?«, fragte der Arzt. »Es gibt viele dringende Dinge, die ich ansonsten erledigen müsste.«
»Nein, wir brauchen Sie nicht mehr. Fahren Sie nur. Es ist so weit alles in Ordnung.«
Der Arzt übergab Neri den Totenschein, auf dem »Unfall« und »kein Fremdverschulden« angekreuzt war.
Alfonso widersprach Neri nicht, was aber nur daran lag, dass seine Kopfschmerzen regelrecht hämmerten und ihm das Denken schwermachten. Aber für ihn war an diesem Fall überhaupt nichts in Ordnung. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass man so ohne weiteres nicht einfach rückwärts eine Treppe hinunterfiel und dann dabei auch noch gleich zu Tode kam. Ihm stank die ganze Sache, aber er fühlte sich heute Morgen einer Auseinandersetzung mit Neri nicht gewachsen. Es ist zum Verrücktwerden, dachte er, monatelang passierte in diesem Käsenest gar nichts, aber wenn man einmal einen über den Durst trank, stolperte man gleich in so eine komplizierte Kiste.
Der Arzt nickte den Anwesenden zu und fuhr zusammen mit seinen Kollegen im Wagen der Ambulanza davon. Er wollte mit der Angelegenheit nichts weiter zu tun haben, denn wenn ein deutscher Tourist zu Schaden kam, gab es immer Scherereien mit den Behörden.
So ähnlich dachte auch Neri, als er mit auf dem Rücken verschränkten Armen am Pool auf und ab ging.
Allmählich wurde es warm, die Sonne schien von Minute zu Minute mehr Kraft zu entwickeln, und Neri begann, in seiner Uniform zu schwitzen.
Jetzt war es erst einmal wichtig, dass der Tote so schnell wie möglich nach Deutschland verfrachtet wurde. Darum kümmerte sich normalerweise auch Ivo. Nicht gerne zwar, weil ihm eine Beerdigung in Italien viel mehr Geld einbrachte, aber immerhin. Es war besser als nichts.
Alfonso war zu dem Toten getreten, zog ihm das Laken vom Gesicht und sah ihn noch einmal nachdenklich an. Er konnte sich einfach nicht damit abfinden, dass die Sache einfach so zu den Akten gelegt werden sollte. So stirbt man nicht, dachte er. Nicht einfach so an einem sonnigen Morgen in der Toskana, ohne Grund und ohne Anlass. Der Arzt hatte weder einen Herzinfarkt noch irgendetwas anderes festgestellt, das zu einer momentanen Übelkeit, einer kurzen Schwäche oder Bewusstlosigkeit hätte führen können. Der Mann war völlig gesund und fiel rückwärts die Treppe runter. So etwas gab es einfach nicht.
»Lass gut sein, Alfonso«, sagte Neri scherzhaft, »auch wenn du ihn noch fünf Stunden anstarrst, wird er dir nicht erzählen, warum ihm schwindlig geworden ist und er den Halt verloren hat.«
Alfonso hätte Neri für diesen dummen Satz würgen können, aber er sagte nichts und deckte das Laken wieder über das blutige, mittlerweile braun verkrustete Gesicht.
Neri legte den Arm um Jonathans Schultern. »Es tut mir so verdammt leid für dich«, sagte er leise, »aber mit Vermietungen ist das so eine Sache. Die Leute kriegen Herzinfarkte, Schlaganfälle, fallen Treppen hinunter, werden im Pool bewusstlos und ertrinken, nehmen sich mit Blick auf den herrlichen Sonnenuntergang das Leben, verirren sich beim Wandern, verunglücken auf der Straße, werden vom Blitz getroffen, von Vipern gebissen oder versehentlich von Jägern erschossen. Haben wir alles schon gehabt. Dein Gast hier hatte heute Morgen einfach Pech. Aber ich helfe dir, dass du da keine großen Schwierigkeiten kriegst und dass dieses Desaster schnell über die Bühne geht.«
»Das ist nett von dir, Donato«, murmelte Jonathan und war in diesem Moment unendlich dankbar.
Natürlich war nichts von all diesen Schauerszenarien beim Agriturismo im Valdambra je passiert. Neri hätte es sich gewünscht, weil es
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