Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
dem Seziertisch.
Die junge Frau umgab jetzt eine ganz andere Aura, wie sie da nach wie vor bekleidet auf dem Tisch lag. Wagner wusste, dass man nicht in unterschiedlichem Grad tot sein konnte, aber dennoch fand er, dass er noch nie einen so toten Menschen gesehen hatte wie dieses kleine Wesen vor ihm.
Gormsen nickte den Kollegen von der Spurensicherung zu, die sich augenblicklich daranmachten, die Leiche von ihrer Kleidung zu befreien. Sorgfältig wurde jedes Stück in Papiertüten verstaut, die sie in ihrem Trockenschrank lagern wollten. Plastiktüten waren ungeeignet, sie stauten die Feuchtigkeit und konnten DNA-Spuren zerstören.
Zuerst wurde der Leiche das bauchnabelkurze rosa »I Love U«-Shirt ausgezogen. Dann folgte der BH, der zwei kleine Brüste verdeckt hatte, die eher zum Körper einer Zwölfjährigen gepasst hätten. Jedes Kleidungsstück wurde mit einem Aufkleber versehen, damit es später in der kriminaltechnischen Untersuchung nach eventuellen Spuren von Haaren, Samen, Speichel, Blut oder anderem überprüft werden konnte, um einen Hinweis auf die Identität des Täters zu liefern. Wagner hoffte sehr, dass sie etwas erfahren würden, denn ihnen fehlte jeglicher Ermittlungsansatz. Sie hatten noch nicht einmal die Identität des Opfers geklärt.
Als die schlackernden Jeans an der Reihe waren, ging ein kollektives Seufzen durch die Gruppe. Das, was einmal zwei hübsche Frauenbeine gewesen waren, hatte weder Form noch Gestalt. Wagner spürte Übelkeit im Hals aufsteigen, als er die dilettantischen Nähte sah, die von der Hüfte bis hinunter zum Fuß verliefen.
»Was in aller Welt hat er nur mit ihr gemacht?«
|42| Er fragte, ohne eine Antwort zu erwarten. Gormsen erwiderte auch nichts. Er hatte sich vorgenommen, diese Obduktion vorschriftsmäßig durchzuführen, und darüber war Wagner mehr als zufrieden. Sie würde voraussichtlich und hoffentlich in einer Anklage wegen vorsätzlichen Mordes enden, und niemand würde einen Formfehler finden können.
Nachdem die Kleidung und Wertgegenstände – ein Fünfkronenstück in der Gesäßtasche und eine Packung Tempos – erfasst und verwahrt worden waren, übernahm Gormsen und begann mit der äußeren Sichtung. Wie gewöhnlich sprach er in das kleine Diktafon in seiner Hand, während er die Leiche untersuchte und mit dem Kopf anfing.
»An der linken Schläfe und am rechten Jochbein finden sich Läsionen wie nach einem Schlag«, diktierte seine Stimme in das Aufnahmegerät.
Gormsen holte eine kleine Taschenlampe hervor und leuchtete in die leeren Augenhöhlen.
»Die Augen wurden nach Eintritt des Todes entfernt. Der Eingriff erfolgte durch die Augenlider, die ebenfalls fehlen. Dafür wurde ein spitzes Instrument verwendet.«
Er legte die Lampe beiseite.
»Es gibt keine Anzeichen einer Strangulierung. Die Haut am Hals ist intakt.«
Gormsens Blick folgte seinen Händen in Latexhandschuhen, während er weitersprach. Er nahm eine Hand der jungen Frau in seine. Sie sah aus wie die Hand einer Schaufensterpuppe.
»Die Fingernägel sind abgebrochen. Auf den Armen befinden sich blaue Druckstellen, vermutlich vom Täter verursacht. Auf den Händen und Armen sind Kratzer und Schürfwunden, mögliche Anzeichen dafür, dass sich das Opfer gewehrt hat. Wir nehmen einen Abstrich unterm Fingernagel.«
Während er das sagte, griff er nach einem Holzstäbchen, kratzte Partikel unter dem Nagel der Toten ab und verwahrte die Probe in einer kleinen Plastikröhre, die er versiegelte. Sein Mitarbeiter versah diese dann mit einem Aufkleber.
|43| Gormsens Hände arbeiteten sich weiter vor, entdeckten eine alte Narbe einer Blindarmoperation, eine Narbe von einem entfernten Leberfleck sowie Verletzungen im Schambereich, die auf eine Vergewaltigung hindeuteten.
Wagner wunderte sich nicht zum ersten Mal über die Redseligkeit eines toten Körpers.
Er hörte, wie Gormsen tief Luft holte, und sah, wie sich sein Brustkorb unter dem Kittel hob und senkte. Seine Finger betasteten vorsichtig die Beine der Frau. Die Naht war so schlampig gearbeitet, dass man ohne weiteres einen Finger zwischen den Stichen hindurchstecken konnte.
Kurz darauf zog Gormsen etwas Blutiges aus dem Oberschenkel. Er ging damit zum Waschbecken, spülte es ab und blieb einen Augenblick mit einem grauen Gegenstand in der Hand stehen, bevor er ihn seinem Assistenten weiterreichte. Wagner wollte etwas sagen, stieß aber nur einen gepressten Laut aus.
Gormsen kam zurück zum Stahltisch, räusperte sich und
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