Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
verwundbare Menschen erklärten sich bereit, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Sie konnte sie gut verstehen. Allerdings hatte sie auch Verständnis für die Rechtsmediziner und das Gesetz, das verlangte, dass alle tot aufgefundenen Personen der Polizei zur rechtsmedizinischen Leichenschau gemeldet werden müssen, um eine Todesursache benennen zu können. Letzteres konnte lange dauern, wenn man bei der Obduktion nichts gefunden hatte.
»Und sie haben keine Hinweise darauf entdeckt, dass Ihr Sohn krank war? Herzkrankheiten?«
»Das war auch deren erste Theorie, aber dann haben sie gesagt, dass sie nichts gefunden hätten«, sagte der Mann.
Dicte bat die beiden um ihre Namen und den Namen ihres |39| Sohnes und fragte, ob sie selbst mit den Rechtsmedizinern in Kontakt treten dürfe, um sich einen Überblick zu verschaffen. Sie hießen Karina und Åge Frandsen und gaben ihr mehrere Adressen und Telefonnummern. Sie zweifelte zwar daran, ob ein Artikel von ihr die Sache beschleunigen könnte, aber die beiden hatten insofern recht, als es die Leser tatsächlich interessieren könnte. Die wenigsten Menschen hatten eine Vorstellung davon, auf wie viele verschiedene Weisen der Tod in ihr Leben eingreifen konnte.
Nachdem sie gegangen waren, blieb sie einen Augenblick sitzen und versuchte sich vorzustellen, wie es den beiden ging. Sein Kind zu verlieren war das eine, aber zu wissen, dass der Körper aufgeschnitten wird und davon Proben entnommen werden, war noch schlimmer. Weil man es nicht abschließen konnte und keine Gewissheit hatte, warum das eigene Kind sterben musste.
Sie wandte sich ihrem Computer zu, um endlich zu den Stiefeln zu recherchieren. Bo kam mit einem Becher Kaffee für sie herein, in der anderen hielt er seinen eigenen. Er rieb ihr den Nacken, und sie drückte ihren Kopf gegen seine Hand.
»Ich habe was von eurem Gespräch gehört. Das muss schrecklich sein.«
Sie nickte.
»Wenigstens wurde die Leiche freigegeben, und sie konnten ihn beerdigen. Die zusätzlichen Analysen scheinen jetzt so viel Zeit zu kosten.«
Aber Bo hatte recht. Es war schrecklich. Auch für die Familie des Stadionopfers musste es schrecklich sein, die Neuigkeiten zu erfahren. Der Tod war selten willkommen. Aber vielleicht war es weniger schlimm, wenn einfach plötzlich alles vorbei war, als wenn man erfuhr, dass das eigene Kind geschlagen oder sogar gefoltert worden war.
Sie googelte Doc Martens. Sofort erschienen mehrere Seiten, auf denen man die bekannten Stiefel kaufen konnte. Es gab auch Abbildungen.
|40| »Natürlich«, sagte Bo. »Du bist ja so was von gerissen!«
Das gesuchte Modell schienen die sogenannten »Dr. Martens Black Smooth, classic 8 Eye boots« zu sein. Dort stand, dass dieser Stiefel einen prägnanten Sohlenabdruck habe und 1960 von dem deutschen Arzt Dr. Klaus Maertens erfunden wurde. Das klassische Modell habe außerdem die unverkennbaren, gelben Nähte.
»Was für eine Schuhgröße hast du gleich noch?«
»Vierundvierzig«, antwortete Bo.
Dicte tippte weiter. Sie drehte sich zu ihm um und inspizierte seine schwarzen Cowboystiefel, die er auf die Heizung gelegt hatte. Sie benötigten dringend neue Absätze, allerdings hatte sie ihn auch noch nie in anderen Schuhen gesehen. Sie lächelte ihn an.
»In etwa drei Tagen solltest du der glückliche Besitzer eines neuen Stiefelpaares sein, des berühmtesten der Zeitgeschichte.«
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Kapitel 6
In dem kleinen Obduktionssaal im Institut für Rechtsmedizin war es so voll und warm wie auf einer überfüllten Tanzfläche.
Wagner stand Schulter an Schulter mit seinem Kollegen Ivar K und bereute es, nicht Jan Hansen mitgenommen zu haben. Der hätte zwar noch mehr Platz eingenommen, aber dafür hätte er wenigstens still gestanden. Ivar dagegen war die ganze Zeit in Bewegung, als hätte er ein Problem mit seinem Hals. Wie ein überhitztes Duracell-Kaninchen hatte er sich nicht unter Kontrolle, sondern drehte seinen Kopf von der einen zur anderen Seite und wackelte mit den Schultern, so dass die Nähte des blauen Kittels spannten. Wenn die Maske über Nase und Mund etwas verbergen sollte, so kompensierte er das mit Augenrollen und kräftigem Zucken der Augenbrauen.
»Verdammte Scheiße!«
|41| Er sagte es leise und ließ einen gedämpften Pfiff folgen, der in seiner Gazemaske verschwand.
Ganz anders Wagner, der Institutsangestellte, die Kriminaltechniker und die zwei Rechtsmediziner. Sie waren leise und betrachteten mit stummem Ernst die Leiche auf
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