Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
Zitrone oder etwas anderem Frischen und Verlockenden im Vergleich zum Geruch von Blut und Desinfektionsmittel im OP. Sie war zierlich und sah eher aus wie ein kleines Mädchen, wie sie da mit ihren Aktenordnern hockte. Ihr Haar war zu einem unordentlichen Knoten zusammengesteckt, und ihre Lippen zitterten, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Und die Augen. Noch nie zuvor hatte er eine solche Farbe gesehen.
|71| «Lena Bjerregaard.«
Er nahm sie am Ellenbogen und half ihr auf.
»Ich bin die neue Sekretärin, Mutterschaftsvertretung.«
Das hatte er vergessen. Wie er so manches vergaß, was er für unwichtig erachtete. Er räusperte sich.
»Janos Kempinski. Willkommen, wollte ich sagen.«
Sie waren grün; oder vielleicht waren sie auch blau mit Tupfern aus Meer, Tang und Sonne. Sie raubten ihm geradezu den Atem.
»Vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen …«
»Dir«, korrigierte er sie. »Wir duzen uns hier alle.«
»Dir«, wiederholte sie mit einem Tonfall, der verriet, dass sie es dennoch unpassend fand.
Er musste schlucken. Allein ihre Stimme genügte, um ihm eine Gänsehaut nach der nächsten über seinen Körper zu jagen. Mädchenhaft klang sie, so verletzlich und doch lebendig. Der Mann auf dem OP-Tisch in der Neurochirurgischen Abteilung war mit einem Mal ganz weit weg.
Sie standen sich eine Weile gegenüber und versuchten sich in Smalltalk, was er noch nie besonders gut beherrscht hatte. Aber sie half ihm dabei. Sie führte ihn durch das Minenfeld der Fallgruben einer Konversation, damit er nicht als Vollidiot dastehen musste. Sie entschuldigte sich vielmals dafür, dass sie ihre neue Tätigkeit gleich mit einem freien Tag einläuten müsse. Aber sie habe einen Termin beim Augenarzt am nächsten Morgen und er wisse ja, dass man diese Termine ein halbes Jahr im Voraus vereinbaren musste.
»Natürlich. Das ist in Ordnung«, sagte er, obwohl das sonst nicht seine Art war.
»Ich kann die Stunde nachholen«, sagte sie.
»Kommt gar nicht in Frage«, erwiderte er.
»Danke sehr.«
Ursprünglich kam sie aus Odense, lebte aber schon seit zehn Jahren in Århus. Zuerst hätte sie begonnen, Dänisch zu studieren, aber die große Arbeitslosigkeit unter den Geisteswissenschaftlern |72| habe ihr Angst gemacht und darum hätte sie zur Handelsschule gewechselt.
Ihm hingegen machte etwas ganz anderes Angst. Plötzlich tauchte die Befürchtung in ihm auf, dass sie am nächsten Tag nicht zur Arbeit erscheinen würde. Dass er sie vielleicht nie wiedersehen würde.
Nur mit großer Mühe konnte er sich losreißen. Als er später pfeifend den Gang zur Dialyse entlanglief, war sein ganzer Körper durchströmt von Wärme. Da beschloss er, dass er ausreichend Energie habe, um nach
Dem Besonderen Patienten
zu sehen, wie er ihn nannte.
Normalerweise haben Chirurgen wenig Kontakt zu den Dialysepatienten, aber von Anfang an hatte ihn dieser Patient fasziniert, vielleicht waren es die außergewöhnlichen Umstände, die ihn neugierig gemacht hatten.
Der Besondere Patient hieß Peter Boutrup. Er war neunundzwanzig Jahre alt und vor kurzem für eine Dialyse mit dem Gefangenentransporter aus dem neuen Staatsgefängnis in Ostjütland gebracht worden, wo er wegen fahrlässiger Tötung saß. Bisher ließ sich die Ursache für sein Nierenversagen nicht klären, aber die Situation war kritisch. Wenn er nicht bald eine neue Niere bekäme, sah es sehr schlecht für ihn aus.
Janos Kempinski pfiff sein Lieblingslied
We are the Champions
, hatte aber Schwierigkeiten, den Ton zu treffen.
Der Fall Peter Boutrup hatte von Anfang an seinen Sinn für moralische Dilemmata gereizt. Unter den Kollegen hatte er eine Art Priorisierungsdebatte ausgelöst. Er selbst tendierte dazu, alle Menschen gleich zu behandeln. Sein Kollege Torben Smidt hingegen war das genaue Gegenteil. Außerdem liebte er es, zu provozieren:
»Vorausgesetzt, eine Niere würde mehreren Spendern passen. Wem würdest du dann den Vorrang geben?«
Die Diskussionen waren in Gang gebracht worden, nachdem Der Besondere Patient mit dem Gefangenentransporter eingetroffen |73| war. Begleitet von zwei Beamten, die wie Schulze und Schultze neben seinem Bett saßen.
Die Frage war hypothetisch, denn der Computer bestimmte, welcher Kandidat auf der Warteliste der geeignetere Empfänger war. Selten hatten dort die großen menschlichen und ethischen Überlegungen Platz. Wenn zwei Empfänger gleichermaßen geeignet waren und das gleiche Geschlecht, Alter und
Weitere Kostenlose Bücher