Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
hineinversetzen«, sagte die Gerichtsmedizinerin, die noch jung und |66| vielleicht selbst Mutter war. »Es fällt schwer, wenn man nicht damit abschließen kann. Aber wir bitten um Geduld. Wir warten auf die Ergebnisse dieser Proben.« Sie betonte, dass sie leider über Details keine Aussagen machen dürfe. »Grundsätzlich müssen alle tot aufgefundenen Personen der Polizei zur rechtsmedizinischen Leichenschau gemeldet werden. Die Leiche wird meist schon am Tag nach der Obduktion der Polizei übergeben. Die entscheidet dann, ob die Leiche zur Bestattung freigegeben wird oder nicht. Und das wird auch häufig gemacht, obwohl die Todesursache noch gar nicht geklärt ist.«
»Aber Sie suchen weiter?«, fragte Dicte.
Hanne Fridtjof nickte.
»Wir nehmen die notwendigen Proben, um diese dann mikroskopisch untersuchen zu können, beispielsweise aus dem Impulssystem des Herzens. Oder wir entnehmen Hirngewebe, um eine Epilepsie auszuschließen, für forensische Untersuchungen und so weiter.«
Sie saßen im Büro des Rechtsmedizinischen Instituts, das in den Räumen des alten Kreiskrankenhauses untergebracht war. Das Gebäude war von außen mit Efeu zugewachsen und lag auf der gegenüberliegenden Seite der Hauptverkehrsader des Krankenhauses. Eine der letzten Gelegenheiten, das alte Institut zu besichtigen. In wenigen Monaten würden das Institut und die Forensische Abteilung, die bisher in der Psychiatrischen Klinik in Riskov untergebracht war, in ein neues Gebäude neben dem Skejby Krankenhaus umziehen.
»Dann sind es also die Labore, an denen das alles hängt?«, sagte Dicte. »An sie werden vermutlich auch immer größere Forderungen gestellt?«
»Ja, der Druck wird immer größer.«
»Und dann kommt jetzt auch noch diese verstümmelte Leiche vom Fußballstadion dazu«, versuchte Dicte ihr Glück. »Waren das nicht PVC-Rohre, mit denen der Täter die Knochen ersetzt hatte?«
Die Medizinerin nickte.
|67| »Schreckliche Geschichte. Die armen Eltern.«
Dicte hielt die Luft an. Die Wände des Raumes fingen an sich zu drehen, während ihre Schlussfolgerungen auf sie niederregneten. Zwei nahezu identische Morde. Der eine vor zwei Jahren in Priština verübt, der zweite vor wenigen Tagen in Århus. Eine 35-jährige Journalistin und eine 22-jährige Auszubildende aus Århus, die aus einem heilen Elternhaus stammte und augenscheinlich ohne Kontakte in kriminelle Kreise oder ins Ausland war. Zwei Menschen, die auf den ersten Blick nur eines gemeinsam hatten: ihren Mörder.
Sie stand auf und verabschiedete sich, ehe Hanne Fridtjof bemerken konnte, dass sie sich verplappert hatte. Auf dem Weg zurück in die Innenstadt lag Århus in Sonne gebadet vor ihr, darüber ein nahezu wolkenloser Himmel. Eine Provinzidylle.
Herausgeschnittene Augen. PVC-Rohre anstelle von Knochen. Gehörten solche Verbrechen in die Stadt des Lächelns?
[ Menü ]
Kapitel 11
Der Mann auf dem Operationstisch sah lebendig aus, rein technisch aber war er tot.
Seine Haut war noch warm und verfügte noch über eine innere, unbestimmbare Glut, die in der Regel die Lebenden von den Toten unterschied. Auch sein Herz schlug noch. Das Beatmungsgerät hielt es in Gang.
Er war ein gutaussehender Mann, oder vielmehr war er das gewesen. Sein Körperbau war harmonisch, nicht besonders kräftig, aber schlank, und offensichtlich hatte er irgendeinen Sport ausgeübt, der nicht zu übermäßigem Muskelaufbau führte. Joggen vielleicht, dachte der Arzt Janos Kempinski, der sich trotz seines ausländischen Namens als ein waschechter Däne empfand. Seine Eltern waren in den Fünfzigern aus |68| Ungarn geflohen, und er war in Dänemark geboren und aufgewachsen.
Regungslos und voller Respekt betrachtete er den Körper des Mannes. Einen so perfekten Körper einfach wegzuwerfen war eine Verschwendung. Vor einem Tag war sein Auto auf der Strecke von Århus nach Viborg verunglückt, als er die Kontrolle über seinen Wagen verlor und frontal gegen einen Baum am Wegesrand geprallt war.
Kempinski stand im OP der Neurochirurgischen Abteilung, die früher das Städtische Krankenhaus Århus gewesen war. Er holte tief Luft. Nicht zum ersten Mal erinnerte ihn die Atmosphäre an eine religiöse Zeremonie, und das nicht, weil er selbst besonders gläubig war; er hatte vor langer Zeit der Religion zugunsten der Wissenschaft abgeschworen. Aber ihm gefiel dennoch die Vorstellung von einer Andacht und von etwas Heiligem. In seiner Welt lag vor ihm das größtmögliche Heiligtum
Weitere Kostenlose Bücher