Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
in der Jægersgårdsgade permanent vor ihrem inneren Auge abspielte. War die Wahrheit nicht einfach nur die, dass auch ein psychopathischer Gewalttätiger einen weichen Punkt hatte? Unabhängig davon, dass Arne Bay gleichzeitig der Mann sein konnte, der Mette Mortensen entbeint, ihr die Augen ausgestochen und das Gleiche den beiden Opfern in Lublin und Priština angetan hatte?
Wie war das damals zu Zeiten des Nationalsozialismus gewesen: Da hatte es auch Wachen in den Konzentrationslagern gegeben, die jüdische Geliebte gehabt hatten. Existierten nicht Geschichten darüber, dass einige von ihnen so das Leben dieser Frauen gerettet hatten, weil Liebe im Spiel gewesen war? Und trotzdem waren diese Wachmänner gleichzeitig in der Lage gewesen, Tausende anderer Juden in die Gaskammern zu schicken, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Nach einer halben Stunde Recherche gab Dicte auf. Sie würde mehr Details benötigen, um weiterzukommen. Vielleicht sollte sie sich an in Dänemark lebende Polen wenden, an eine polnische Organisation oder an die polnische Botschaft. Jemand musste Informationen darüber haben.
Stattdessen begann sie ihren dritten Artikel über die rechtsextremen Kräfte im Land zu schreiben und entschied sich, ihren Fokus auf eine Organisation von der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums zu setzen, die sich Antirassistisches Netzwerk nannte. Sie wurde vor etwa anderthalb Jahren gegründet, als Reaktion auf die Tatsache, dass rechtsextreme Gruppierungen begonnen hatten, konsequent die Teilnehmer linksorientierter Vereinigungen bei Demonstrationen zu filmen. Zu den Betroffenen gehörten Mitglieder der Roten Jugend, der Einheitsliste und der DKP/ML, den Kommunisten, in Århus.
Sie begriff, dass eben dieser Versuch der Überwachung und Kontrolle über die Anhänger der verschiedenen Gruppen zu dem Zwischenfall im Café in der Mejlgade geführt hatte, wo das Antirassistische Netzwerk eine Versammlung einberufen |126| hatte. Es war zu einer juristischen Auseinandersetzung gekommen, und Mette Mortensens Vater, Ulrik Storck, hatte als Anwalt der Klägerseite fungiert. Das war eine der wenigen Informationen, die sie Wagner hatte aus dem Kreuz leiern können. Allerdings war das auch nicht gerade ein Staatsgeheimnis. Der Mann hatte nach dem Tod seiner Tochter gleich mehreren Zeitungen Interviews gegeben, allerdings nicht ihrem Blatt. War das nur ein Zufall, dass ausgerechnet Mettes Vater als Anwalt des äußersten linken Flügels ein Beistand des Erzfeindes der Rechten war?
Sie starrte ins Leere, ohne ihre Kollegen oder das Geschehen hinter den großen Fenstern zu registrieren. Sie war tatsächlich eine erfahrene Journalistin, und auch erfolgreich, wie Bo ganz richtig betont hatte, und ja, sie würde auch nicht vergessen, dass sie nicht unfehlbar war. Aber auf der anderen Seite war sie mittlerweile auch so alt, dass sie aufgehört hatte, an Zufälle zu glauben.
Sie hatte ihren Artikel Korrektur gelesen und wollte gerade auf send klicken, als sie Bos Schritte hinter sich hörte und gleich darauf seine Hand in ihrem Nacken spürte, der ein Versöhnungskuss folgte.
»Okay.«
Er setzte sich wie immer auf die Kante ihres Schreibtischs.
»Ich habe mit Krzysztof Skolimowski gesprochen, der bei der größten Tageszeitung in Warschau arbeitet. Er ist für mich ins Archiv gegangen. Der besagte Fall ereignete sich während eines bedeutenden Spiels, Lublin gegen Gdynia. Nach dem Spiel entdeckte ein Gdynia-Fan die Leiche des Vorstandes einer ärztlichen Praxisgemeinschaft in Lublin in der Nähe des Parkplatzes. Es liegt das identische Muster wie bei den anderen Morden vor. Der Fall wurde nie geklärt, aber es gab die Vermutung, dass es eine politisch motivierte Tat gewesen ist.«
Dicte lehnte sich zurück, und die Buchstaben auf dem Bildschirm wurden unleserlich. Drei Frauen, die auf dieselbe bestialische Weise malträtiert worden waren. Drei Morde, bei denen |127| rechtsextreme Gewalt nahelag. Für Mette Mortensen galt das zwar nur indirekt, war aber vielleicht wegen der hochrangigen Fälle ihres Vaters doch nicht so unwahrscheinlich.
»Jüdischen Glaubens, übrigens«, ergänzte Bo.
Dictes Gedanken wirbelten wild durcheinander. Die Tochter eines ambitionierten Anwalts, eine albanische Journalistin in Opposition zu den serbischen Nationalisten und eine Ärztin mit jüdischem Hintergrund. Frauen, die schön auf ihre Plätze verwiesen werden und bloß nicht glauben sollten, dass sie etwas Besonderes
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