Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
nachhaltig beeindruckt war. Auch die Krankenschwestern redeten viel von ihm.
|130| Lena Bjerregaard senkte ihren Blick erneut auf den Terminkalender.
»Um 10:30 gibt es eine Konferenz über die Warteliste und über die Frage, ob ein gewisser Victor Meyer aus Viborg erneut in die Liste aufgenommen werden soll.«
Er seufzte. Victor Meyer war ein junger Mann von gerade mal 22 Jahren, dem letztes Jahr eine sogenannte Leichenniere transplantiert wurde. Aber die war bereits wieder ruiniert, weil der Patient seine Medikamente falsch eingenommen und sein Leben hauptsächlich in Diskotheken mit zwielichtigen Freunden verbracht hatte. Nun bettelte und flehte er die zuständigen Ärzte an, ihn erneut auf die Warteliste zu nehmen, und versicherte, dass er sein Leben vollkommen geändert hätte.
»Um 12 Uhr Mittagessen mit Alex Breinholdt von Scandiatransplant.«
»Oh ja, Breinholdt. Mittagessen, ja?«
Den Termin hätte er gerne ausfallen lassen. Alex konnte so umständlich sein, und ein Treffen mit ihm, das nicht länger als die anberaumte halbe Stunde dauern müsste, zog sich immer hin. Aber Scandiatransplant war wichtig für das Krankenhaus, obwohl die Transplantationen zunehmend mit Lebendspenden erfolgten. Flemming Kissmeyer, ein Oberarzt und Professor der klinischen Immunologie, hatte in den Sechzigern Scandiatransplant ins Leben gerufen, das die postmortalen Spendernieren in den skandinavischen Ländern verteilte. Das funktionierte problemlos. Wenn sich herausstellte, dass eine postmortale Spenderniere besser mit den Angaben eines norwegischen Patienten matchte als mit denen eines Empfängers auf der dänischen Warteliste, dann ging die Niere nach Norwegen. Darum besaßen einige dänische Patienten schwedische und norwegische Nierentransplantate. Wenn eine Niere oder ein anderes Organ im Ausland einem Empfänger zugeteilt worden war, reiste in der Regel der zuständige Chirurg höchstpersönlich zur Organentnahme an. So kam es, dass die Organentnahme bei einem Spender |131| manchmal wie eine Konferenz des Nordischen Rates anmutete.
»Du solltest bei diesem Mittagessen dabei sein«, schlug er vor. »Es ist immer nützlich, die Leute von Scandiatransplant und deren System zu kennen, und Breinholdt ist ein guter Mann. Das wird alles von hier, vom Skejby Krankenhaus aus organisiert.«
»Darauf könnt ihr wohl alle ziemlich stolz sein«, sagte sie und lächelte.
»Ziemlich«, gab er zu. »Übrigens, wie war denn dein Termin beim Augenarzt?«
Er fragte nur, weil er sich beim Blick in ihre Augen einredete, dort all das zu sehen, was ihm die vergangenen Jahre verwehrt gewesen war. Er konnte es nicht genau beschreiben. Vielleicht war es die Chance auf eine große, erwiderte Liebe. Vielleicht war es auch nur ein gegenseitiges Verstehen und eine große Sympathie. Hatte er sich in sie verliebt? Konnte so etwas nach so kurzer Zeit überhaupt passieren?
Wahrscheinlich war er einen Augenblick in Gedanken und Gefühlen versunken und ganz von sich eingenommen gewesen, oder vielmehr von ihr. Plötzlich bemerkte er aber, dass sich ihr Gesichtsausdruck geändert hatte. Die Augen hatten wieder diesen Schimmer, oder bildete er sich das nur ein?
»Das war alles in Ordnung«, antwortete sie, aber er wusste in diesem Moment, dass es gelogen war.
Peter Boutrup sah wesentlich besser aus als bei ihrer letzten Begegnung. Offensichtlich nahm er seine Medikamente regelmäßig, und die Dialyse schien auch gut zu wirken.
»Guten Tag, Peter.«
Auch der Händedruck des Patienten war fest. Kempinski nickte den beiden Gefängnisbeamten aus Horsens zu.
»Doktor Tod, seien Sie gegrüßt.«
»Ich würde mir wünschen, Sie würden mich Doktor Leben nennen«, erwiderte Kempinski. »Das ist schließlich unser oberstes Bestreben hier, Leben zu schenken.«
|132| Der Patient schenkte ihm ein sarkastisches Lächeln.
»Aber vergessen Sie nicht, dass dafür in der Regel jemand sterben muss, damit ihr neues Leben schenken könnt. Jemand muss aufhören zu atmen.«
Kempinski zog sich einen Stuhl heran und setzte sich Boutrup gegenüber. Er ignorierte die Beamten, die mit ihren Kaffeebechern beschäftigt schienen. Er schlug das Krankenblatt auf, das er mit ins Besprechungszimmer der Ambulanz gebracht hatte.
»Nicht notwendigerweise«, sagte er. »Postmortale Spendernieren werden zunehmend seltener transplantiert als Lebendspenden von Familienangehörigen.«
Boutrup lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete ihn, als wären sie sich an
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