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Der Menschenspieler

Der Menschenspieler

Titel: Der Menschenspieler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Lavender
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Shipley«, sagte er. »Können Sie uns sagen, was Literatur ist?«
    Ein Mädchen in der zweiten Reihe zögerte. Der Rest von ihnen betrachtete es, dieses hübsche, geheimnisvolle Mädchen aus Vermont. Alex Shipley hatte lange, glatte Haare, die im Licht des Klassenzimmers glänzten. Sie war eigensinnig, blitzgescheit, und wenn man sie nicht kannte, konnte sie einen mit ihrer Aufrichtigkeit entwaffnen, was sie durchaus beabsichtigte. Sie hatte es noch niemandem erzählt (sie behielt Geheimnisse gern, solange es irgendwie ging, für sich), aber im Frühling ging sie nach Harvard an die Universität.
    »Literatur ist Liebe«, sagte das Mädchen.
    »Glauben Sie an die Liebe, Ms Shipley?«
    »Ja.«
    »Dann müssen Sie auch an die Literatur glauben.«
    »Sehr sogar.«
    »Was ist mit der Fähigkeit der Literatur wie auch der Liebe zu verletzen?«
    Das Mädchen zuckte unbeirrt mit den Schultern. Die Kamera, die auf die Studenten gerichtet war, nahm das auf, und Aldiss’ Augen schnellten nach oben, wo er seinen eigenen Monitor mit einem Bild des Kellerraums haben musste. Er lächelte: Ihm gefiel diese unbestimmte, fast rebellische Geste. »Wenn die Literatur bei uns alle Gefühle hervorrufen kann«, sagte sie, »warum dann nicht auch Schmerz?«
    »Das Buch als Messer.«
    »Oder Pfeil.«
    Aldiss lehnte sich zurück, noch stärker beeindruckt. »Als flammender Pfeil.«
    Alex zuckte wieder mit den Schultern. »Oder Beil.«
    Dann passierte etwas.
    Aldiss’ Gesicht wurde knallrot. Er machte sich in seinem Stuhl steif, als hätte ihn ein elektrischer Schlag getroffen, und griff mit den Händen um seinen Hals. Dann begann er, sich zu drehen und zu winden, immer noch aufrecht sitzend, während die Stuhlbeine hektisch unter ihm klapperten. Es wirkte, als würde er unsichtbar von hinten stranguliert.
    Die Wachen bewegten sich schnell. Sie umstellten ihn, beide griffen nach vorn, nur ihre Arme und Hände waren zu sehen, sie wollten ihn zur Ruhe bringen. Aber der Professor ließ sich nicht ruhigstellen. Er schlug wild um sich, bockte und warf sich hin und her, der Stuhl quietschte auf dem Boden. Aldiss schob sich fast ganz außer Reichweite der Kamera. Aus seinem Mund drang etwas Schaum und floss sein Kinn hinab. Jetzt war er nicht mehr richtig im Bild, die gesichtslosen Wächter am rechten Bildrand kämpften mit ihm, versuchten, ihn zu retten. »Seine Zunge!«, sagte einer von ihnen. »Mein Gott, er verschluckt seine Zunge!«
    Der Bildschirm wurde schwarz.
    Ein paar Momente lang saßen die Studenten im Seminarraum stumm wartend da. Niemand schien zu wissen, was zu tun war. Sie sahen einander an, Schock und Verwirrung auf ihren Gesichtern. Der Bildschirm rauschte.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte ein Mädchen namens Sally Mitchell.
    Dann kam der Ton, dieser elektrische Klang von vorher, zurück. Alle sahen zum Fernsehschirm.
    Aldiss kehrte zurück, seine Haare zerzaust, seine Augen schmerzerfüllt.
    »Es tut mir leid«, lallte er. »Ich habe manchmal diese … diese Anfälle. Ich habe das schon immer, seit ich ein kleiner Junge war. Nichts, um das man sich Sorgen machen müsste. Meine Wachen hier sind ausgebildete Sanitäter, sie werden mich nicht vor Ihnen sterben lassen.« Er sagte nichts mehr.
    Die neun Kursteilnehmer starrten das Gerät an. Irgendwie beruhigte diese Erklärung ihre Nerven nicht. Ein paar von ihnen würden in dieser Nacht von ihm träumen. Träume ganz aus Geräuschen und verschwommenen Bewegungen: das Kratzen von Stuhlbeinen, das peinigende Gurgeln im Hals des Professors.
    »Sie haben gesagt«, fuhr Aldiss fort, als er sich wieder unter Kontrolle hatte, »dass Literatur durch ihren Platz im Kanon definiert wird. Sie wird von Emotionen definiert, von Liebe. Was, wenn« – sein wahnsinniger Blick glitt durch den Raum und fiel auf sie alle, und selbst das, diese simple Bewegung, zeigte den Studenten des Abendkurses, warum er ein so überzeugender Lehrer war – »Literatur ein Spiel ist?«
    Keiner von ihnen wusste, wie das zu verstehen war. Sie starrten den Bildschirm an und warteten darauf, dass der Mann fortfuhr.
    »Was, wenn das, was mir gerade passiert ist, nur ein Trick war?«
    Die Studenten waren verwirrt. Jemand lachte nervös.
    »Ich habe wirklich eine neurologische Krankheit«, sagte er der Klasse, »aber hätte ich sie nicht, wäre der Anfall, den ich gerade erlitten habe, ein Jux, eine Shownummer – hätten Sie geglaubt, dass ich Schmerzen hatte?«
    Niemand antwortete.
    »Kommen Sie. War ich

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