Der Menschenspieler
wir es als Erste erfahren. Falls Sie ihn beschützen oder für ihn lügen …«
»Das tue ich nicht.«
»… dann werden Sie mit ihm ins Gras beißen. Haben Sie verstanden?«
Sie schluckte. »Ich verstehe.«
»Gut. Rund-um-die-Uhr-Überwachung heute Nacht. Falls Aldiss sich diesem Campus nähert, haben wir ihn. Und meine Männer haben einen eindeutigen Schießbefehl.«
Alex sagte nichts. Der Traum stach ihr in die Augen: Vertraust du mir?
»Und, Dr. Shipley?«
Sie drehte sich um, wartete.
»Was Sie in Iowa entdeckt haben?«
»Ja, Detective?«
»Sie müssen jetzt ausgiebig und genau darüber nachdenken, denn es sieht so aus, als habe Richard Aldiss sein Spiel schon seit sehr langer Zeit gespielt.«
Iowa
1994
37
»Lydia Rutherford hat mich darauf gebracht«, erklärte Keller.
Sie waren in einem einsamen Diner auf der Main Street. Ein paar misstrauische Stammgäste hockten an der Bar und jammerten poetisch über die Kälte. Eine Kellnerin flitzte vorbei und füllte ihre Drinks auf, sie blieb einen Augenblick stehen. »An einem Freitagabend lernen?«, fragte sie.
Alex sah zu der Frau hoch. Sie sagte: »Wenn wir das nicht tun, dann wird ein Mann, der wegen Mordes im Gefängnis sitzt, sehr enttäuscht von uns sein.«
Die Kellnerin schüttelte missbilligend den Kopf. Dann war sie weg, und Alex wandte sich wieder Keller zu.
Sie waren direkt von Lydia Rutherfords Haus zum Diner gefahren. Ihr Hunger wurde kurzfristig von dem schockierenden Bild eines Charlie Rutherford ausgeblendet, der exakt so aussah wie auf dem Foto, das Keller bekommen hatte. Irgendjemand hatte sie sogar damit auf Charlie hingewiesen. »Er ist es, Alex«, hatte Keller atemlos gesagt, als sie vom Haus wegfuhren. »Heilige Scheiße, er ist es.«
Nun aßen sie angebrannte Cheeseburger und tranken Schokoladenmilchshakes. Keller griff in seine Tasche und nahm ein Buch heraus. Es war Fallows’ Die goldene Stille . Während Alex ihren Burger aufaß, blätterte er es durch und machte Häkchen an den Rand.
»Es war etwas, was sie vorhin gesagt hat«, sagte er, »etwas über Charlie.«
Dann blätterte er den Text durch. Die goldene Stille war Fallows’ zweiter Roman, das Buch, mit dem die Suche wirklich begonnen hatte. Er winkte Alex zu sich, und sie setzte sich neben ihn. Es war Stunden her, dass sie ihm so nah gewesen war, und sie wollte innehalten, die Szene so verlangsamen, dass sie einfach nur bei ihm sein konnte. Aber dafür fehlte ihnen die Zeit. In weniger als zwei Tagen wären sie wieder auf dem Rückweg nach Vermont, und was sie in diesem Haus gesehen hatten, hatte alles verändert. Sie beugten sich über das Buch, starrten auf die aufgeschlagene Seite.
»In Die goldene Stille geht es um vieles«, erklärte Keller ihr. »Wir sind im Abendkurs nie dazu gekommen, aber ich.«
»Was?«
»Ich habe geschummelt, Alex. Ich habe schon weitergelesen.«
»Angeber.« Alex stupste ihn mit dem Ellbogen an. »Wovon handelt es?«
»Na ja, zum einen ist es eine Geschichte über Iowa. Die Windung war ein Roman über New York, aber dieses Buch spielt hier. Wo wir jetzt sitzen.«
»Im Page’s Diner?«, fragte Alex scherzhaft.
Keller verzog das Gesicht. »Man merkt, dass Fallows seine Heimat geliebt hat. Auch wenn Rutherford nicht Fallows ist, so glaube ich trotzdem, dass wir es mit jemandem aus Iowa zu tun haben.«
»Weiter.«
»Zum anderen ist Die goldene Stille eine Geschichte über einen Mann im Gefängnis.«
Alex löste sich vom Text und drehte sich zu Keller um. »Was?«
»Ja, ich weiß. Exakt wie Aldiss. Aber dieser Kerl flieht.« Er machte eine Pause und sah auf das Buch, als würde ihn dessen bloße Existenz stören. »Er sitzt wegen etwas ein. Etwas, das vor langer Zeit passiert ist. Ein Verbrechen. Aber es wird nie erklärt, welches Verbrechen. Es ist etwas Schreckliches. Ein Mord vielleicht, keine Ahnung. Fallows versucht absichtlich, den Leser aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dieses Ding ist wie Finnegans Wake auf Steroiden.«
»Und der Protagonist sitzt im Gefängnis«, sagte Alex, um ihn wieder zum Thema zurückzuführen.
»Ja. Aber, wie gesagt, er flieht. Er tut so, als wäre er jemand anderes, und dann – das ist seltsam, Alex, wirklich verdammt seltsam – fangen die Leute an, ihm zu glauben.«
»Was meinst du?«
»Er erzählt ihnen, er sei ein anderer Mann. Er fängt an, seinen neuen Namen zu benutzen. Zuerst bei seinem Zellengenossen und dann bei den Wächtern. Und langsam … na ja, es ist, als würde er sie
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