Der Menschenspieler
Alex das Stadtzentrum. Die Gebäude, getrennt und gespalten, und die alten Männer, die sie dieses Mal etwas länger ansahen. Sie wunderte sich über die Leere des Ortes und die völlige Trostlosigkeit.
»Wohin jetzt?«, fragte Keller. Seine Stimme klang müde.
»Jetzt finden wir ihn«, sagte Alex. »Wir fahren in die Olive Street.«
Es dauerte nicht lange, bis sie Rutherfords Haus gefunden hatten.
Die Olive Street war eine Parallelstraße der Main Street. Eine Fahrt von vier Minuten. Es war eine Gegend mit Lattenzäunen; Haufen schmelzenden Schnees waren von der Straße geräumt; in jeder Auffahrt standen zwei Autos. Ein paar Jungen fuhren auf Fahrrädern an ihnen vorbei und schauten misstrauisch in den Wagen.
»Wo zum Teufel ist es?«, fragte Keller und las die Adressen auf den Häusertraufen.
»Hier«, antwortete Alex. Sie zeigte auf eine Frau, die die Straße entlangging, den Kopf wegen des Windes gesenkt. Keller fuhr rechts ran, und Alex öffnete das Fenster.
»Entschuldigen Sie«, rief sie. Die Frau blieb stehen, ihr Blick sprang misstrauisch von einem Gesicht zum anderen. »Können Sie uns vielleicht sagten, wo Charles Rutherford gewohnt hat?«
Die Frau entspannte sich. Das war offensichtlich eine Frage, an die sie gewöhnt war. Sie nahm eine behandschuhte Hand aus der Tasche. »Da«, sagte sie und zeigte auf ein rotes Ziegelhaus an der Ecke. »Seine Witwe wohnt immer noch da. Aber …«
»Was ist?«, fragte Alex.
»Sie sehen wie Studenten aus.«
»Das sind wir.«
Die Frau verzog das Gesicht. »Lydia mag Studenten nicht besonders.«
»Warum nicht?«, fragte Alex.
»Es liegt an dem Haus. Sie glauben … die Studenten glauben, dass vor langer Zeit etwas in diesem Haus geschehen ist.«
Alex wartete.
»Aber Sie beide sehen nett aus. Vielleicht spricht sie mit Ihnen, wenn Sie ihn nicht erwähnen.«
»Ihn?«
»Den Schriftsteller. Diesen Paul Fallows. Deswegen traut sie Studenten nicht – weil sie immer nur darüber reden wollen. Sie sind nie an ihrem Leben interessiert oder daran, wie es Charlie geht.«
»Charlie«, sagte Alex. »Sie meinen ihren Ehemann?«
»Nein, natürlich nicht. Mr Rutherford ist schon seit Jahren tot. Ich rede von ihrem Sohn.«
Das Haus war winzig. Es war selbst in diesem Block ein Atavismus, eine Antiquität. Die Ziegel waren ausgebleicht, die Fensterläden gerissen, und eine zerfetzte amerikanische Flagge flatterte im Wind. Eine hohe Hecke wuchs vor der Haustür, vielleicht um die Fallows-Forscher auf Abstand zu halten. Alex betrachtete das Haus und fühlte wieder einmal gar nichts – keinen Hauch von Erkenntnis, kein Kribbeln in den Fingern. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob Aldiss sie wirklich hierhergeschickt hatte.
»Es sieht kein bisschen gruselig aus«, sagte Keller.
»Was hattest du denn erwartet?«, fragte sie. »Ein Spukhaus?«
»Offensichtlich.«
Sie sahen es sich vom Rinnstein aus an. Drinnen rührte sich nichts, niemand ging hinter dem großen Vorderfenster vorbei. Das Haus war genau dasselbe, in dem Charles Rutherford gestorben war, dasselbe, zu dem Aldiss und sein Mentor Locke gekommen waren, als sie genau diese Reise gemacht hatten. Als sie an Aldiss dachte, spürte sie das erste Kribbeln. Er war hier.
Sie gingen auf die Haustür zu. Alex blieb stehen und ließ Keller die Stufen der Veranda zwischen den Hecken hinaufsteigen. Sie hatte das Gefühl, dass er derjenige sein sollte, der die Witwe begrüßte. Er war in so etwas besser als sie.
Keller klopfte, und die beiden warteten, lauschten. Drinnen rührte sich etwas, und dann öffnete sich die Tür, und eine Frau stand vor ihnen. Sie war mindestens fünfundfünfzig, ihr Gesicht faltig und müde. Doch sie hatte etwas Lebendiges an sich, etwas, das eine frühere Schönheit vermuten ließ.
»Mrs Rutherford?«, fragte Keller.
»Ja?«
»Wir sind … wir wollten nur …«
Die Frau sah den Jungen an und lehnte am Türrahmen.
»Wir wollten …«
»Was mein Freund sagen möchte«, sagte Alex und trat vor, »ist, dass wir mit Ihnen über Ihren Sohn sprechen wollten.«
In den Augen der Frau veränderte sich etwas. »Charlie?«
Sie und Rutherford hatten einen kleinen Jungen, der sehr krank war.
»Ja genau«, fuhr Alex fort. Die Lüge ging ihr so leicht über die Lippen, dass sie selbst überrascht war. Aber sie kannte diese Zeilen, dieses Drehbuch: Aldiss hatte es ihr in einer der ersten Stunden gegeben. »Wir haben in einem Artikel, den wir am College gelesen haben, von seiner Krankheit erfahren, und
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