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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Klinge.
    Cederna dreht das Messer in der Hand (er kann es zwischen den einzelnen Fingern um dreihundertsechzig Grad drehen, eins der Kunststücke, um die ihn viele beneiden). «Huhu», sagt er, «no money, no massage? Und der vorher, hatte der Geld?»
    Oxana kauert sich auf den Boden. «Please», fleht sie.
    An dieser Stelle wird Cederna klar, welche Chance ihm die 165  Millimeter der Klinge aus geschwärztem Stahl bieten. Sein Geld ist alle. Oxana ist allein. Bei wem will sie sich beschweren? Offiziell existiert sie nicht, in einer Militärbasis gibt es keine Prostituierten. In wenigen Stunden wird er in einen Hubschrauber steigen und zur FOB zurückkehren. Selbst wenn die Masseuse im Camp Schutz genießt, was wahrscheinlich ist, hätten ihre Freunde nicht die Zeit, sich zu organisieren und ihn zu suchen.
    Zwischen Analyse und Aktion vergehen gerade einmal ein paar Sekunden. Bei der Truppe wurde er auf Reaktionsgeschwindigkeit getrimmt.
    Er hilft ihr aufzustehen, freundlich. Er schiebt sie in Richtung Liege, dreht sie mit dem Rücken zu sich. Oxana gehorcht der Spitze des Messers wie einem Zauberstab. Sie ist stark, aber nicht stark genug, ihn daran zu hindern, dass er ihre beiden Hände mit seiner Linken festhält. Mit der Rechten zieht er sie und sich selbst aus, nur das Nötigste, dann nimmt er das Messer wieder, das er kurz zwischen den Zähnen gehalten hat, und setzt es ihr an die Gurgel. Er drückt es sacht gegen die Haut am Hals, ohne zu schneiden. Er will sie nicht verletzen.
    Du bist wirklich primitiv, Francesco Cederna.
    Ich bin ein Wolf, hat man Ihnen das nicht gesagt?
    Oxana schreit nicht mehr, sie gibt ein Winseln von sich, das auch als Ermunterung gemeint sein könnte. Sie macht sich steif, als er ihr in die Schulter beißt, und Cederna fühlt sich angespornt weiterzumachen. Er will sie in Stücke reißen, sie zerfleischen. Er ejakuliert auf ihren Hals und auf ihre Haare. Da, endlich, weichen die Gedanken. Die Gespenster verflüchtigen sich. Nur das hat er gebraucht, und das ist nicht wirklich viel. Er ist ein Soldat: Was ihm nicht gewährt wird, weiß er sich zu verschaffen.
    Danach erinnert er sich an wenig. Nur an den letzten Blick, den er auf die Masseuse warf, bevor er aus der Hütte floh: das T-Shirt zur Mitte des Rückens hinaufgerollt, die Schürze am Boden, Hose und Unterhose um die Knöchel gewickelt und zwei wohlgeformte Beine, bleich in dem roten Licht. Eines davon zittert leicht. Satt, mager und ungläubig taucht Cederna ein in die Nacht.
     
    Giulia Zampieri ist lange durch das amerikanische Lager geirrt, in der Dunkelheit, die nicht so vollkommen ist wie in der FOB , sondern vom Neonlicht über dem Eingang zu den Baracken unterbrochen wird. Ihr Gehirn ist leer, als hätte es jemand mit einer Feuerwehrspritze gesäubert. Hinter einem Zelt biegt sie ab und entdeckt eine Schaukel. Sie ist improvisiert, ein Lastwagenreifen, mit zwei Ketten in einem stählernen Dreispitz aufgehängt. Was machen die Marines bloß mit einer Schaukel? Das scheint ein Witz:
Was macht ein amerikanischer Soldat auf einer Schaukel?
Das Einzige, was er damit machen kann, denkt Zampieri, ist schaukeln.
    Sie setzt sich auf den Gummireifen und versinkt in dem Hohlraum im Inneren. Sie stößt sich mit den Füßen ab. Die Kette quietscht. Mit den Zehenspitzen berührt sie wieder den Boden, dann setzt die Bewegung ein, die man ihr vor hundert Jahren beigebracht hat, in einem früheren Leben: Vorbeugen und Strecken, vorbeugen und strecken … Sie beugt den Oberkörper stärker vor, um die Schaukelbewegung zu vergrößern. Die Schaukel wiegt sie, vor und zurück, in der stehenden, lauen schwarzen Luft.

Als die Soldaten in die FOB zurückkehren, hat sich das Wetter geändert. Es regnet drei Tage lang ohne Unterbrechung, ein feiner, nervtötender Regen. In kürzester Zeit ist der jährliche Durchschnitt an Niederschlägen in der Gegend erreicht, dann wird es doppelt und dreimal so viel. Der Staub auf dem Boden wird zu einem schlammigen Brei, dann verflüssigt er sich ganz. Wo immer es ein wenn auch nur minimales Gefälle gibt, rinnt der Schlamm. Die Rinnsale vereinen sich zu einem Fluss, der das Lager von Nord nach Süd durchzieht und beim Haupteingang hinausläuft. Nach und nach zeigen sich die Grenzen der Wasserundurchlässigkeit der einzelnen Zelte und kommen die zahllosen Schlampereien zutage, die beim Aufstellen unterlaufen sind. Um jedes Zelt müssen Gräben ausgehoben werden, Löcher müssen geflickt und

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