Der menschliche Körper
noch einmal in Renés Gedanken beginnen, aber jetzt lässt René das nicht mehr zu. Er weiß, was richtig ist. Er sieht sich selbst ganz deutlich zusammen mit dem Kind auf einer grünen Wiese liegend, und letzten Endes ist das seit langem die beste Phantasie, die ihn gestreift hat.
«Wie geht es dir? Bist du verletzt?»
«Nein. Nein, es geht mir gut.»
«Ich habe alles in den Nachrichten gesehen. Dein Name wurde genannt. Wie schrecklich, wie grausam, René. Die armen Jungs.»
«Rosanna, hör mir zu. Ich hatte viele Zweifel, ich habe wieder und wieder darüber nachgedacht. Ich glaubte, ich schaffe es nicht, du wärst … kurzum, wir kennen uns kaum, ist es nicht so? Und es gibt viele Unterschiede zwischen uns. Aber das Leben hat mir die Augen geöffnet. Gott hat entschieden, dass ich nicht sterben soll. Ich habe beschlossen, dass ich mich um unser Kind kümmern muss, damit es mit einem Vater aufwachsen kann. Ich dachte, ich müsste mich noch mehr um mich selbst kümmern, aber das stimmt nicht, es interessiert mich nicht mehr. Ich will das Kind. Ich bin bereit. Ich bin es wirklich, glaub mir.»
«René, hör zu …»
«Ich habe mir schon alles überlegt. Letzte Nacht habe ich auf dem Bett gelegen mit der Taschenlampe im Mund und habe mir Notizen gemacht, ich habe eine Liste zusammengestellt. Es gibt viele Dinge zu regeln, aber wir werden es schaffen. Du kannst zu mir ziehen, meine Wohnung ist nicht riesig, aber groß genug. Ich muss mein Arbeitszimmer ausräumen, aber da ist ohnehin nur Mist drin. Es ist nicht einmal ein richtiges Arbeitszimmer, ich nenne es bloß so. Ich kann alles wegwerfen und Platz schaffen. Ich werde ein guter Vater sein, Rosanna, ich schwöre es dir. Ich war ein miserabler Vorgesetzter, ich habe zugelassen, dass fünf meiner Jungs sterben, aber ich werde das wiedergutmachen, ich werde ein perfekter Vater sein. Ich werde immer bei ihm sein. Ich werde ihm Radfahren und Fußballspielen beibringen und … alles. Auch wenn es ein Mädchen ist. Ich hätte so gern, dass es ein Mädchen ist. Hat man es dir schon gesagt? Ist es ein Junge oder ein Mädchen, Rosanna? Sag’s mir, ich will es wissen.»
Er hört sie atmen am anderen Ende der Leitung. Sie weint. Er möchte sie hier haben, sie umarmen und ihr die Tränen trocknen. Es ist richtig so, dass sie weint, denn das ist ihrer beider Augenblick, tragisch und glorreich zugleich, es ist der Anfang ihrer gemeinsamen Geschichte, und in vielen Jahren werden sie sich daran zurückerinnern.
«Du bist ein Dummkopf, René.»
«Nein, Rosanna. Ich werde alles gut machen, das schwöre ich dir. Wir zwei … wir werden einen Weg finden.»
«Sei still. Verstehst du denn nicht?»
«Was?»
«Es ist zu spät.»
René hat einen trockenen Mund. Er hat lang und schnell gesprochen. Die Amerikaner reden laut, sie brüllen in die Hörer, sie bellen, nehmen wenig Rücksicht. Der Lärm macht ihn ganz benommen. «Was hast du getan?», fragt René.
«Es ist zu spät.»
«Rosanna, was zum Teufel hast du getan?»
Die Schafe kommen den Hang herab, schwanken auf ihren glatten Hufen, die Mäuler starr vor Schreck. Etwas stimmt da nicht, es ist kein Schäfer dabei. Sie wollen uns verarschen. Schießt, schießt, schießt mit allen zur Verfügung stehenden Waffen. Der Lince explodiert mit einem Krachen, das ein Pfeifen im Ohr zurücklässt. Man muss bereit sein, man muss aufpassen. Das Kind ist noch kein Kind, es ist eine Mücke. Die mit einem Röhrchen abgesaugt wird, und in fünf Minuten ist alles vorbei.
«Leb wohl, René», sagt Rosanna. «Pass auf dich auf.»
Die Masseuse heißt Oxana, ist achtunddreißig Jahr alt, wirkt aber älter. Sie kommt aus Turkmenistan, was in Cedernas Vorstellung nur ein weiterer scheußlicher Ort ist, irgendwo im Norden, ein Ort, den kennenzulernen sich nicht lohnt. Viel mehr erlaubt sie ihm nicht zu erfahren: Wenn der Soldat versucht, eine Unterhaltung zu beginnen, unterbricht ihn die Frau und zeigt auf die Liege oder, wenn sie fertig sind, auf die Tür. Fragen beantwortet sie einsilbig, und ihn fragt sie nie etwas. Aus Rache zwingt Cederna sie, die Dauer der Massage zu verkürzen. Er packt ihre Hand und legt sie sofort dorthin, wo er sie haben will. Sie ist damit nicht zufrieden, die Vorbereitung erlaubt ihr, weniger Abscheu vor sich selbst zu empfinden. Cederna ist nicht so unsensibel, dass er das nicht merken würde. So ist alles in wenigen Minuten erledigt. Dann ist der Soldat wieder draußen, orientierungslos im amerikanischen
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