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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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der Fasern am Hals zu urteilen, ist der Kopf mit einer kleinen Klinge abgetrennt worden, vermutlich mit einem Taschenmesser. Die Warnung ist nur allzu deutlich, und der Überbringer hat es nicht für nötig gehalten, irgendetwas hinzuzusetzen, außer einem Grinsen, das jedem, der es wagen sollte, sich auf den Weg zu machen, dieselbe Behandlung versprach: Das einzige Los, das verdient, wer mit den Besatzern kollaboriert.
    Ein paar Stunden später marschieren die LKW -Fahrer in einer Reihe auf die FOB zu, den Kopf ihres Freundes in die Höhe haltend wie ein Banner oder einen makabren Passierschein. Niemand hätte gedacht, dass es so viele wären, mindestens dreißig.
    Passalacqua und Simoncelli haben Wachdienst am Hauptturm und wissen natürlich nicht, wie sie sich verhalten sollen. Wenn die Männer, die da auf sie zukommen, Sprengstoff bei sich haben, sind sie schon nah genug, um ein schönes Massaker anzurichten.
    «Ich schieße», schlägt Simoncelli vor.
    «Aber in die Luft.»
    Der Warnschuss macht die Afghanen nur entschlossener. Sie betreten nun den Korridor vor dem Eingang. Sie rufen etwas in ihrer Sprache.
    «Was mach ich? Schieß ich noch einmal?»
    «Ja, los!»
    Noch eine Salve, nicht gerade in die Luft, sondern über die Turbane hinweg. An einem Dutzend Stellen hinter ihnen fliegt Erde auf.
    «Die bleiben nicht stehen», sagt Simoncelli, «ich werfe eine Granate.»
    «Bist du verrückt? Du bringst sie alle um.»
    «Ich werf sie weit von ihnen weg.»
    «Und wenn du dich vertust?»
    «Dann wirf du sie.»
    «Ich bin doch nicht blöd!»
    Während sie diskutieren, gelangt die Gruppe an den Fuß des Turms. Dort bleiben die LKW -Fahrer stehen, als hätten sie es abgesprochen, und warten höflich, bis jemand kommt und sie einlässt.
    «Schöne Scheiße», kommentiert Ballesio etwa zehn Minuten später, als man ihm den abgeschnittenen Kopf vor die Nase hält. Dann sieht er die Afghanen mit einem seltsam vorwurfsvollen Ausdruck an, als ob sie den Schlamassel angerichtet hätten.
    Der Oberst, Hauptmann Masiero und Irene Sammartino ziehen sich für den Rest des Vormittags in die Kommandozentrale zurück. Sie erscheinen nicht einmal zum Essen in der Kantine – vor Egitto gehen drei Soldaten mit ebenso vielen Tabletts vorbei. Zimmerservice, denkt er. Er ist beleidigt, weil er nicht zu der Versammlung hinzugebeten wurde, und er kann nicht mit Sicherheit sagen, ob die Eifersucht mehr Irene oder Ballesio betrifft.
    Um zwei wird er mit den anderen Offizieren und Zugführern gerufen. Der Oberst wirkt finster, er sitzt in der Mitte des langen Tisches, aber so, als befände er sich im Abseits. Er vermeidet es, Egitto anzusehen, und lässt Masiero an seiner Stelle alles erläutern. Wie üblich erklärt der Hauptmann alles in einem Zug, glasklar, ohne irgendwelche Ungenauigkeiten oder auch nur den Schatten einer emotionalen Beteiligung. In den höheren Sphären – so nennt der Hauptmann das mit unverkennbarer Verachtung – ist man der Ansicht, dass die Pattsituation mit den LKW -Fahrern kritisch geworden ist. Nicht nur ist es inakzeptabel, dass sie barbarischen Angriffen wie der jüngsten Enthauptung eines Kollegen ausgesetzt sind, sondern ihre Unzufriedenheit droht dem Image des Einsatzes insgesamt Schaden zuzufügen und stellt im Übrigen auch ein Gefahrenpotenzial dar. Kurzum, sie müssen nach Hause begleitet werden.
    Der Hauptmann entrollt eine Landkarte, auf der er mit einem Stift eine Route eingezeichnet hat, zusammen mit einigen Bemerkungen in seiner pingelig genauen Schrift. Der Plan ist denkbar einfach: Die Soldaten sollen zusammen mit den LKW -Fahrern eine Kolonne bilden, das Tal durchqueren und knapp oberhalb von Delaram auf die Ring Road stoßen, wo sie die Fahrer allein lassen, um auf demselben Weg zurückzukehren. Die zurückzulegende Entfernung beträgt ungefähr fünfzig Kilometer, es sind insgesamt vier Tage für die Fahrt vorgesehen, zwei für den Hinweg, zwei für den Rückweg. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden sie IED s auf ihrem Weg erwarten und womöglich auch Feuergefechte, aber sie können auf die Desorganisation des Feindes zählen. Aufbruch ist morgen früh vor Sonnenaufgang. Fragen?
    Während der Hauptmann sprach, fingerte Oberleutnant Egitto an der Seitennaht seiner Hose. Er ist der Einzige im Raum, der je durch das Tal gekommen ist, vor einigen Monaten, in umgekehrter Richtung. Ein ganzes Leben scheint ihm seither vergangen zu sein. Sie waren auf vier Sprengladungen gestoßen, hatten zwei

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