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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Steuer. Er will nicht, dass die Verantwortung für einen eventuellen Fehler einen seiner Männer trifft. Er sähe es gern, wenn die Jungs diese Großzügigkeit anerkennen würden, dagegen beobachten sie ihn skeptisch, während er das Manöver vorbereitet, einige denken sogar, er wolle, falls die Aktion erfolgreich sei, als Einziger dafür gelobt werden. Er bemüht sich, sich darum nicht zu kümmern. Das weiß er mittlerweile: Die erste von einem Vorgesetzten geforderte Tugend besteht darin, auf jede Form der Dankbarkeit zu verzichten.
    Er gibt kräftig Gas. Die Reifen des Ambulanzwagens drehen durch und wühlen Staub auf. Der Drehzahlmesser steigt auf sechstausend, ein lautes Kreischen zwingt die Soldaten, sich die Ohren zuzuhalten. Der Lince schwankt und scheint sich auf die Seite legen zu wollen, doch dann kommt er mit einem heftigen Ruck aus dem Loch heraus. Als Zeichen des Unfalls bleibt an der Unterseite des Chassis eine silberne Narbe, die sich bis zur Tür zieht.
    René stellt die Reihenfolge der Fahrzeuge wieder her, und sie fahren weiter, aber der amputierte Konvoi legt keinen weiten Weg zurück. Die Sonne ist mittlerweile untergegangen. Außerdem kann er durch das Fernglas eine Siedlung erkennen. Lartay. Er kann sich nicht entscheiden, ob das gut ist oder nicht. Hauptmann Masiero ist unbehelligt daran vorbeigefahren. Es war nicht vorgesehen gewesen, dass sie sich so weit voneinander entfernten – seinen Fehler in der Einschätzung der Lage und folglich auch jede Entschuldigung unausgesprochen lassend, hat der Hauptmann ins Funkgerät geknurrt, dass es bis zum Buji-Pass keine geeignete Stelle gebe, um die Nacht zu verbringen, daher sei er bis dorthin vorgerückt, Punkt, aus, basta. René ist versucht, ihn einzuholen, aber er kann nicht das Risiko eingehen, womöglich im Dunklen in einem Dorf steckenzubleiben.
    Es ist das erste Mal, dass er einen Einsatz mit konkreten Gefahren leitet, das erste Mal, dass er eine so heikle Entscheidung treffen muss. Noch am Morgen wäre er vor Aufregung überwältigt gewesen, hätte man ihm eine solche Gelegenheit vor Augen geführt, aber jetzt verspürt er, anders als erwartet, kein Gefühl der Vollkommenheit. Er empfindet entschieden mehr Angst als Stolz.
    Er gibt Befehl zu lagern. Jetzt, da Masiero sie sich selbst überlassen hat, wäre eigentlich Oberleutnant Egitto der Ranghöchste, trotzdem übernimmt René das Kommando, weil er der erfahrenere Stratege ist, und der Doc unterstützt ihn.
    René lässt die Fahrzeuge in Kolonne aufgestellt – im Falle eines Überfalls könnten sie so schneller aufbrechen –, dann legt er die Wachdienste fest. Er fühlt sich völlig erschöpft. Bevor er den Zündschlüssel herumdrehte und der Sitz unter seinem Hintern zu vibrieren aufhörte, hat er das nicht wirklich bemerkt. Der Nacken tut ihm weh, sämtliche Glieder sind steif, und er spürt Stiche, vor allem im unteren Rücken. Ganz zu schweigen von dem Juckreiz überall. Es ist nicht seine Art zu jammern, aber diesmal entfährt ihm ein «Ich kann nicht mehr».
    «Wem sagst du das, Feldwebel», erwidert Mattioli.
    René glaubt aber nicht, dass es den anderen genauso geht wie ihm. Keiner hat die Last des Kommandos getragen.
    Er löst den Sicherheitsgurt. Es ist kein einfacher Sicherheitsgurt, sondern ein Werkzeug der Hölle, bestehend aus einem Ring, in den vier straff gespannte Gurte eingehakt werden, von denen zwei ihm die ganze Zeit über die Eier eingeklemmt haben. Er nimmt den Helm ab, die Sonnenbrille, durch die ihm der Abend weiter fortgeschritten schien, als er tatsächlich ist – hätten sie noch ein Stück fahren können? Verflucht, es ist Zeit, sich auszuruhen! Er zieht auch die Handschuhe aus, dann beugt er sich über das Lenkrad, um die komplizierteste Operation vorzunehmen: die kugelsichere Weste. Er öffnet den Klettverschluss an den Seiten, dann zieht er den Kopf ein wie eine Schildkröte und schiebt das Teil mühsam nach oben. Kaum löst sich die Weste vom Körper, spürt er ein heftiges Brennen am Bauch, als hätte man ihm ein Stück Fleisch mit weggerissen. Krämpfe? Er versteht gar nichts mehr, die Schmerzen überwältigen ihn. Er wirft die Weste über das Lenkrad, zieht das Baumwollshirt aus der Hose und rollt es über den Bauch hoch.
    Als er es sieht, entschlüpft ihm nicht einmal ein Ach. Ein violetter, fast schwarzer Streifen verläuft von einer Seite des Bauches auf die andere, dort, wo die Bleiplatte der kugelsicheren Weste aufsaß. Er ist daumenbreit,

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