Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
Vom Netzwerk:
und an einigen Stellen sieht man frische Abschürfungen und Klümpchen eingetrockneten Eiters. Den Kommentar dazu gibt Mattioli: «Verdammte Scheiße, René.»
    Die anderen beugen sich zu ihm herunter, auch Torsu geht in die Knie und streckt den Kopf in den Innenraum des Lince, er ist leichenblass und fast erleichtert, dass es jemandem ebenso schlechtgeht wie ihm. Alle fangen an, sich wie die Besessenen auszuziehen, um zu sehen, was sie unter der Schutzweste haben, und von außen betrachtet, sind sie eher komisch, wie sie sich drehen und winden, denn es ist nicht leicht, im Sitzen und auf engstem Raum die Panzerung abzulegen. Einige haben rote Hautstellen, aber keiner ist aufgeschürft wie René.
    «Du musst zum Doc», sagt Mattioli.
    «Wozu?»
    «Du brauchst eine Salbe.»
    «Das ist bloß ein blauer Fleck.»
    «Es blutet. Hier. Und da auch.»
    «Es sieht aus, als ob man einen Kaiserschnitt gemacht hätte», bemerkt Mitrano.
    «Ein Kaiserschnitt ist doch nicht so lang, du Idiot!», sagt Simoncelli.
    «Was weiß denn ich davon? Ich hab das nie gesehen!»
    René willigt ein, vorübergehend mit Camporesi den Platz zu tauschen. Auch eine banale Aktion wie diese verlangt einen gewissen Grad an Vorsicht, man kann nicht einfach aussteigen und die fünfzehn Meter, die sie trennen, gehen, womöglich gibt es hier oder da Heckenschützen, in diesem Felsspalt auf acht Uhr zum Beispiel. Zuerst muss man mit den Fahrzeugen einen Sicherheitskorridor schaffen.
    Schließlich steigt der Feldwebel in den Ambulanzwagen, auf den Fahrersitz. Der Doc lässt ihn sich im hinteren Teil auf einer Trage ausstrecken. Das Medikament, mit dem er ihn behandelt, brennt wie reiner Alkohol, und vielleicht ist es das auch. René hat bogenförmige Schwellungen auch unter den Achseln und eine große auf dem Rücken. Ein paar Sekunden nachdem der Doc eine Stelle mit dem in Desinfektionsmittel getränkten Tupfer berührt hat, klingt das Brennen ab, und an seine Stelle tritt ein Gefühl der Frische.
    «Atmen Sie, Feldwebel!»
    «Hä?»
    «Sie halten die Luft an. Sie können atmen.»
    «Aha. Okay.»
    René schließt die Augen. Ausgestreckt liegen. Die Rückenmuskulatur strecken, die Gliedmaßen locker lassen, all das verursacht ihm ein tiefes Wohlgefühl im ganzen Körper.
    Der Doc massiert ihm die Schultermuskulatur, seine Hände sind warm. Das ist gewiss der intimste Kontakt, den René je zu einem Mann hatte. Zuerst ist es ihm peinlich, doch dann lässt er sich fallen. Er möchte, dass es nie aufhört.
    Die Möglichkeit, die Nacht im Ambulanzwagen zu verbringen, zeichnet sich vor ihm ab, ausgestreckt statt zusammengekauert auf dem Fahrersitz in dem überbesetzten Lince, mit dem Lenkrad, das einen daran hindert, sich auch nur auf eine Seite zu drehen. Die Trage, auf der er liegt, stünde allerdings Camporesi zu. Er hat den Ambulanzwagen den ganzen Tag lang gefahren, er selbst hat ihn dafür eingeteilt: Jetzt mit ihm den Platz zu tauschen wäre fies. Aber der Feldwebel ist völlig entkräftet. Zum ersten Mal in seiner Laufbahn führt sein Egoismus einen erbitterten Kampf gegen die Redlichkeit.
    Jeder meiner Männer würde so handeln. Keiner würde sich für mich opfern.
    Das ist keineswegs so, das weißt du genau.
    Im Grunde sind alle Egoisten. Wir sind alle Egoisten. Warum muss ich mich immer so benehmen, als ob ich besser wäre als sie, warum soll ich es auch diesmal sein, wenn sie mir nichts zurückgeben? Ich habe mich mehr verausgabt als alle anderen. Morgen muss ich ausgeruht sein, um sie durch das Dorf zu führen.
    Nein, nein, nein! Das ist nicht richtig. Der Platz steht Camporesi zu.
    René weiß, wenn er der Verführung der Trage nachgibt, wird seine Selbstachtung für immer davon beschädigt sein. Er wird seinen Dienstgrad ausgenützt haben, um es etwas bequemer zu haben. Er wird nicht anders gewesen sein als viele seiner Vorgesetzten, die er stets verachtet hat.
    Alle nützen es aus. Wir sind Hurensöhne, der eine so, der andere so. Und es ist ja nur für diese Nacht.
    Er setzt sich auf. Der Doc protestiert, er soll liegen bleiben, bis das Schmerzmittel wirkt. «Nur einen Augenblick», sagt René.
    Er langt nach dem Funkgerät im vorderen Teil des Fahrzeugs und setzt sich mit dem Lince davor in Verbindung, er lässt sich Camporesi geben.
    «Hier bin ich, René», antwortet der Soldat.
    «Wir tauschen den Platz. Heute Nacht bleibe ich im Ambulanzwagen.»
    Auf der anderen Seite langes Schweigen.
    René drückt die Sprechtaste. «Ich bleibe im

Weitere Kostenlose Bücher