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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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»also lass uns weitermachen.«
    Jetzt zittert er wirklich. Er kommt mit dem Reis nicht zurecht. Er zittert so stark, dass der Reis von der Gabel fällt.
    Gott im Himmel, da kommt ein Ober mit Wasser. Er hat einen Bogen geschlagen und kommt von hinten auf Lester zu, ein anderer Ober, aus dem Nichts, verdammte Scheiße. Sie sind alle dicht neben Les, der auf einmal »Jahhhh!« brüllt und dem Kerl an die Gurgel geht, sodass der Wasserkrug vor seinen Füßen explodiert.
    »Stopp!«, ruft Louie. »Zurück!«
    Die Erbsen pulenden Frauen kreischen.
    »Er braucht kein Wasser!« Louie schreit und ist aufgesprungen, er schreit und hat den Stock hoch erhoben, und für die Frauen sieht er aus wie ein Verrückter. Aber wenn sie denken, dass Louie verrückt ist, wissen sie nicht, was verrückt ist. Dann haben sie keine Ahnung.
    An anderen Tischen sind einige Leute aufgestanden, und Henry eilt zu ihnen und spricht leise mit ihnen, bis sie sich wieder setzen. Er erklärt seinen Gästen, dass die Leute da drüben Vietnamveteranen sind und er es, wenn sie ihn besuchen, als seine patriotische Pflicht ansieht, gastfreundlich zu sein und ihre Probleme für ein, zwei Stunden zu ertragen.
    Von da an herrscht im Restaurant absolute Stille. Les nimmt ein paar kleine Bissen, und die anderen essen alles auf, bis das einzige Essen auf dem Tisch das auf Les' Teller ist.
    »Bist du damit fertig?«, fragt Bobcat. »Willst du das nicht mehr?«
    Diesmal schafft er es nicht mal, »Kannst du haben« zu sagen. Wenn er diese drei Wörter ausspricht, werden alle, die unter dem Boden des Restaurants begraben sind, sich erheben und Rache nehmen. Sag nur ein Wort, und falls du beim ersten Mal nicht gesehen hast, wie das ist, dann wirst du's jetzt sehen, da kannst du Gift drauf nehmen.
    Jetzt kommen die Glückskekse. Normalerweise gefällt ihnen das. Sie lesen die Sprüche, lachen, trinken Tee - wem gefällt das nicht? Aber Les ruft: »Teeblatt!«, und rast los, und Louie sagt zu Swift: »Geh mit ihm raus. Bleib bei ihm, Swiftie. Gib auf ihn acht. Lass ihn nicht aus den Augen. Wir zahlen inzwischen.«
    Auf dem Heimweg herrscht Schweigen: Bobcat schweigt, weil er so vollgefressen ist; Chet schweigt, weil wiederholte Bestrafung durch zu viele Schlägereien ihn längst gelehrt hat, dass Schweigen für einen so kaputten Mann wie ihn die einzige Möglichkeit ist, freundlich zu erscheinen; und auch Swift schweigt ein zorniges, verbittertes Schweigen, weil mit dem flackernden Neonlicht auch die Erinnerung an den Swift von früher, die im Harmony Palace anscheinend lebendig geworden ist, hinter ihm zurückbleibt. Swift ist jetzt damit beschäftigt, den Schmerz zu schüren.
    Les schweigt, weil er schläft. Nach zehn Tagen totaler Schlaflosigkeit vor diesem Ausflug ist er nun endlich eingeschlafen.
    Als Louie alle anderen abgesetzt hat und er und Les allein im Wagen sind, hört er, dass Les aufwacht, und sagt: »Les? Les? Das hast du gut gemacht, Lester. Ich hab gesehen, wie du geschwitzt hast, und gedacht: ›Oh, oh, oh, das schafft er nicht.‹ Du hättest mal sehen sollen, wie bleich du warst. Ich konnte es nicht fassen. Ich dachte, du würdest den Ober kaltmachen.« Louie, der sich in den ersten Nächten in der Heimat mit Handschellen an einen Heizkörper in der Garage seiner Schwester gefesselt hat, um sicherzugehen, dass er den Schwager nicht umbringen würde, der so freundlich gewesen war, ihn, der den Dschungel vor kaum achtundvierzig Stunden hinter sich gelassen hatte, bei sich aufzunehmen, Louie, dessen Leben so auf die Bedürfnisse der anderen ausgerichtet ist, dass darin kein Platz mehr bleibt für irgendwelche dämonischen Triebe, und der in den über einem Dutzend Jahren, in denen er trocken und clean geblieben ist, in denen er das Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker durchgezogen und seine Medikamente mit religiöser Gewissenhaftigkeit eingenommen hat - gegen die Angst Klonopin, gegen die Depressionen Zoloft, gegen das Brennen in den Knöcheln, das Knirschen in den Knien und den unaufhörlichen Schmerz in den Hüftgelenken Salsalate, ein entzündungshemmendes Mittel, das meist kaum mehr bewirkt als Sodbrennen, Blähungen und Durchfall -, Louie, der es geschafft hat, so viele innere Trümmer beiseite zu räumen, dass er imstande ist, gesittet mit anderen Menschen zu sprechen, und sich zwar nicht wohlfühlt, aber nicht mehr wie ein Wahnsinniger darunter leidet, sich auf diesen schmerzgeplagten Beinen für den Rest seines Lebens nur so

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