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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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gekämmt oder gebürstet worden. Aber alles in allem wirkte sie eher zerzaust als zügellos, und so sagte die Frau, die gerade Mäuse an eine Schlange in einer Kiste zu ihren Füßen verfütterte - sie hielt jede Maus mit einer langen Zange, bis die Schlange zustieß und sie packte und der unendlich langsame Prozess des Verschlingens begann -, nur »Hallo« und widmete sich weiter ihren Sonntagmorgenpflichten.
    Die Krähe war in der mittleren Voliere, die, etwa so groß wie ein begehbarer Schrank, zwischen denen zweier Sperlingskäuze und eines Zwergfalken stand. Da war sie. Faunia fühlte sich gleich besser.
    »He, Prince. Na, du Großer?« Sie schnalzte mit der Zunge - tack, tack, tack.
    Sie drehte sich zu der jungen Frau um, die noch immer die Schlange fütterte. Bei Faunias früheren Besuchen war sie nicht da gewesen - höchstwahrscheinlich war sie neu. Oder relativ neu. Faunia hatte die Krähe seit Monaten nicht mehr besucht, sie war nicht mehr hier gewesen, seit sie begonnen hatte, Coleman zu besuchen. Sie hatte schon eine ganze Weile nicht mehr irgendwelche Möglichkeiten erkundet, die menschliche Rasse hinter sich zu lassen. Seit ihre Kinder gestorben waren, kam sie nicht mehr regelmäßig, doch damals war sie vier- oder fünfmal pro Woche hierhergefahren. »Er darf doch mal raus, oder? Nur ganz kurz.«
    »Klar«, sagte die Frau.
    »Ich möchte ihn gern auf der Schulter haben«, sagte Faunia und bückte sich, um den Haken der Glastür zur Voliere zu öffnen. »Hallo, Prince. Ach, Prince, was bist du für ein Prachtvogel.«
    Als die Tür offenstand, flog die Krähe von ihrer Stange auf, setzte sich auf die Oberkante der Tür und blieb dort, den Kopf hin und her drehend, sitzen.
    Faunia lachte leise. »Starker Ausdruck. Er checkt mich ab«, rief sie der Frau zu. »Sieh mal«, sagte sie zu der Krähe und zeigte ihr den Opalring. Colemans Geschenk. Den Ring, den er ihr im Wagen geschenkt hatte, an dem Samstagmorgen im August, als sie nach Tanglewood gefahren waren. »Sieh mal. Na, komm schon. Komm her«, flüsterte sie dem Vogel zu und bot ihm ihre Schulter an.
    Doch er lehnte die Aufforderung ab, flatterte wieder in die Voliere und kehrte zu seinem Dasein auf der Stange zurück.
    »Prince ist heute nicht in Stimmung«, sagte die Frau.
    »Na komm, mein Schöner«, lockte Faunia. »Komm, na komm schon. Ich bin's, Faunia. Deine Freundin. Na, los, trau dich. Komm her.« Aber der Vogel rührte sich nicht.
    »Wenn er merkt, dass Sie wollen, dass er kommt, kommt er nicht«, sagte die Frau, nahm mit der Zange eine weitere Maus von einem Tablett mit lauter toten Mäusen und hielt sie der Schlange hin, die endlich Millimeter für Millimeter die vorige Maus verschlungen hatte. »Wenn er merkt, dass Sie ihn holen wollen, hält er sich meist außer Reichweite, aber wenn er glaubt, dass Sie ihn nicht beachten, kommt er runter.«
    Sie lachten über dieses menschliche Verhalten.
    »Na gut«, sagte Faunia, »dann lass ich ihn eben für eine Weile in Ruhe.« Sie ging zu der Frau, die dasaß und die Schlange fütterte. »Ich liebe Krähen. Das sind meine Lieblingsvögel. Und Raben. Ich hab mal in Seeley Falls gewohnt - daher kenne ich Prince. Ich kannte ihn schon, als er immer vor Higginsons Laden herumstolziert ist. Er hat den kleinen Mädchen die Haarspangen geklaut. Er war hinter allem her, was bunt war und glitzerte. Dafür war er berühmt. Hier hingen mal Zeitungsausschnitte über ihn und die Leute, die ihn aufgezogen haben, als das Nest kaputt war, und darüber, wie er immer vor dem Laden herumstolziert ist, als ob er mordswichtig wäre. Da drüben hingen sie«, sagte sie und zeigte auf ein Anschlagbrett neben der Tür. »Wo sind die Ausschnitte jetzt?«
    »Er hat sie abgerissen.«
    Faunia brach in Lachen aus, diesmal viel lauter als zuvor. » Er hat sie abgerissen?«
    »Mit dem Schnabel. Er hat sie in Fetzen gerissen.«
    »Er wollte nicht, dass jemand weiß, woher er kommt! Er schämt sich seiner Herkunft! Prince!« rief sie und drehte sich zu der noch immer geöffneten Volierentür um. »Du schämst dich deiner schändlichen Vergangenheit? Ach, du bist ein guter Junge. Du bist eine gute Krähe.«
    Jetzt fiel ihr Blick auf eines der ausgestopften Tiere, die in den im Raum verteilten Vitrinen standen. »Ist das da eine Wildkatze?«
    »Ja«, sagte die Frau und wartete geduldig darauf, dass die Schlange aufhörte, nach der nächsten toten Maus zu züngeln, und sie packte.
    »Ist die aus dieser Gegend hier?«
    »Ich weiß es

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