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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Weisheit der Huren: »Die Männer bezahlen dich nicht dafür, dass du mit ihnen schläfst. Sie bezahlen dich dafür, dass du wieder gehst.«
    Aber obwohl sie weiß, was sie hasst, weiß sie zugleich auch, was ihr gefällt. Seine Großzügigkeit. Für sie ist es eine seltene Erfahrung, in der Nähe von jemandem zu sein, der großzügig ist. Und die Kraft, die daher rührt, dass er kein Mann ist, der mir ein Rohr über den Schädel haut. Wenn er es darauf anlegen würde, könnte ich vielleicht sogar zugeben, dass ich klug bin. Hab ich das gestern nicht praktisch schon getan? Er hat mir zugehört - also war ich klug. Er hört mir zu. Er ist loyal. Er hält mir keine Vorträge wegen irgendwas. Er plant nichts gegen mich. Und ist das ein Grund, so scheiß wütend zu werden? Er nimmt mich ernst. Das ist aufrichtig. Das hat er gemeint, als er mir den Ring geschenkt hat. Sie haben ihm alles abgenommen, und darum ist er nackt zu mir gekommen. Im Moment seiner größten Schwäche. Mein Weg war nicht gerade mit Männern wie ihm gepflastert. Er würde mir Geld geben, wenn ich mir einen Wagen kaufen wollte. Er würde mir Geld für alles geben, was ich mir kaufen wollte, wenn ich ihn nur lassen würde. Bei diesem Mann tut es nicht weh. Ihn zu hören, das Heben und Senken seiner Stimme, beruhigt mich.
    Sind das die Dinge, vor denen du davonläufst? Ist das der Grund, warum du wie ein kleines Mädchen einen Streit vom Zaun brichst? Dass du ihn getroffen hast, war reiner Zufall, dein erster glücklicher Zufall - dein letzter glücklicher Zufall -, und du gehst in die Luft und rennst weg wie ein kleines Mädchen? Willst du es wirklich darauf anlegen, dass es zu Ende geht? Dass es wieder so wird wie damals, bevor du ihn kanntest?
    Aber sie rannte davon, sie rannte aus dem Haus, holte den Wagen aus der Scheune und fuhr über den Berg, um die Krähe in der Voliere des Vogelschutzbundes zu besuchen. Nach acht Kilometern bog sie auf den schmalen Feldweg ein, der sich fünfhundert Meter durch die Landschaft schlängelte, bis schließlich unter den Bäumen das gemütliche, zweistöckige, mit grauen Schindeln verkleidete Haus auftauchte, das am Waldrand, am Anfang der Wanderwege, stand, vor langer Zeit eine menschliche Behausung, inzwischen aber die örtliche Hauptstelle des Vogelschutzbundes. Sie fuhr auf den mit Kies bestreuten Parkplatz und ließ den Wagen bis an den Baumstamm rollen, der als Sperre dalag, direkt vor der Birke, an deren Stamm das Schild genagelt war, das den Weg zum Kräutergarten wies. Ihr Wagen war der einzige auf dem Parkplatz. Sie hatte es geschafft. Sie hätte ebenso gut im Abgrund landen können.
    Die leichte Brise ließ das Glockenspiel über dem Eingang leise erklingen: gläserne, geheimnisvolle Töne, als würde ein religiöser Orden seine Besucher einladen, nicht nur zu meditieren, sondern sich auch umzusehen, als würde hier etwas Kleines, aber Rührendes verehrt - doch die Fahne war noch nicht gehisst worden, und auf einem Zettel an der Tür stand, dass das Haus an Sonntagen erst ab ein Uhr geöffnet sei. Trotzdem ging die Tür auf, als sie dagegen drückte, und sie trat aus den dünnen Morgenschatten der kahlen Hartriegel in die Eingangshalle, wo große, schwere Säcke mit diversen Futtermischungen für die Winterkunden bereitstanden und an der gegenüberliegenden Wand die Kartons mit den verschiedenen Futterhäuschen bis zur Fensterbank gestapelt waren. Im Laden, wo die Futterhäuschen, die Naturbücher, die Wanderkarten, die Kassetten mit Vogelstimmen und anderes Zeug, das irgendwie mit Tieren zu tun hatte, verkauft wurden, brannte kein Licht, doch als sie sich in die andere Richtung wandte und in den größeren Ausstellungsraum ging, der eine kleine Sammlung ausgestopfter Tiere und einige lebende Exemplare beherbergte - Schildkröten, Schlangen, ein paar Vögel in Volieren -, stieß sie auf eine der Mitarbeiterinnen, eine pausbäckige junge Frau von achtzehn, neunzehn Jahren, die »Hallo« sagte und kein Theater veranstaltete, weil noch geschlossen war. Am 1. November, wenn das Herbstlaub verschwunden war, gab es hier oben nicht mehr sehr viele Besucher, und sie hatte nicht vor, jemanden wegzuschicken, der um Viertel nach neun Uhr morgens auftauchte, nicht mal diese Frau, die nicht recht passend für den Herbst in den Berkshires gekleidet war und über ihrer grauen Sweatpants die Jacke eines Männerpyjamas und an den Füßen bloß hinten offene Pantoffeln trug. Auch war ihr langes blondes Haar noch nicht

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