Der menschliche Makel
nicht.«
»Ich hab mal eine gesehen, weiter oben in den Bergen. Die sah genau wie die hier aus. War wahrscheinlich die hier.« Wieder lachte sie. Sie war nicht betrunken - sie hatte nicht mal eine halbe Tasse Kaffee getrunken, bevor sie aus dem Haus gerannt war, geschweige denn Alkohol -, aber das Lachen klang wie das einer Frau, die einen kleinen Schwips hat. Sie fühlte sich einfach gut hier, mit der Schlange und der Krähe und der ausgestopften Wildkatze, die ihr allesamt nichts beibringen wollten. Keiner von ihnen würde ihr aus der New York Times vorlesen. Keiner von ihnen würde versuchen, ihre Kenntnisse über die menschliche Geschichte der letzten dreitausend Jahre aufzufrischen. Sie wusste über die menschliche Geschichte alles, was sie wissen musste: die Skrupellosen und die Wehrlosen. Die Daten und Namen brauchte sie nicht. Die Skrupellosen und die Wehrlosen - das war die ganze verdammte Geschichte. Keiner hier würde versuchen, sie zum Lesen zu ermuntern, denn mit Ausnahme der Frau konnte ohnehin keiner lesen. Die Schlange jedenfalls bestimmt nicht. Die wusste nur, wie man Mäuse verschlang. Langsam und ohne Anstrengung. Jede Menge Zeit.
»Was für eine Schlange ist das?«
»Eine Schwarze Rattenschlange.«
»Sie verschlingt sie ganz.«
»Ja.«
»Und das wird alles im Magen verdaut.«
»Ja.«
»Und wie viele frisst sie so?«
»Das hier ist die siebte. Aber die schluckt sie schon sehr langsam, selbst für ihre Begriffe. Ist wahrscheinlich die letzte.«
»Jeden Tag sieben?«
»Nein, alle ein, zwei Wochen.«
»Und darf sie auch mal raus, oder ist das da ihr Leben?«, fragte Faunia und wies auf das Terrarium, aus dem die Schlange in den Kunststofftrog gehoben worden war, in dem sie gefüttert wurde.
»Nein, sie bleibt immer da drin.«
»Nicht schlecht«, sagte Faunia und drehte sich zu der Krähe um, die noch immer in der Voliere auf ihrer Stange hockte. »Tja, Prince, ich bin hier. Und du bist da drüben. Und ich interessiere mich überhaupt nicht für dich. Ob du dich auf meine Schulter setzt oder nicht, ist mir vollkommen egal.« Sie zeigte auf ein anderes ausgestopftes Tier. »Was ist das da?«
»Ein Fischadler.«
Sie musterte ihn - ein scharfer Blick auf die spitzen Krallen - und sagte dann, wieder mit einem etwas zu lauten Lachen: »Leg dich nicht mit einem Fischadler an.«
Die Schlange erwog eine achte Maus. »Wenn ich doch nur meine Kinder dazu kriegen könnte, sieben Mäuse zu essen«, sagte Faunia, »wäre ich die glücklichste Mutter der Welt.«
Die Frau lächelte und sagte: »Letzten Sonntag ist Prince ausgeflogen. Die anderen Vögel, die wir hier haben, können nicht fliegen. Prince ist der einzige, der fliegen kann. Er ist ziemlich schnell.«
»Oh, ich weiß«, sagte Faunia.
»Ich hab draußen das Putzwasser ausgeschüttet, und er ist schnurstracks zur Tür hinaus und zu den Bäumen geflogen. Nach ein paar Minuten waren drei oder vier andere Krähen da. Sie haben ihn in dem Baum regelrecht umzingelt. Und sie waren völlig aus dem Häuschen. Sie haben ihn gepiesackt. Ihn von hinten angegriffen. Ihn angeschrien. Ihn angerempelt und so. Sie waren innerhalb von Minuten da. Er hat nicht die richtige Stimme. Er kann die Krähensprache nicht. Die da draußen mögen ihn nicht. Schließlich kam er runter zu mir. Sie hätten ihn wahrscheinlich umgebracht.«
»Das kommt davon, wenn man handzahm geworden ist«, sagte Faunia. »Das kommt davon, wenn man die ganze Zeit mit Leuten wie uns verbringt. Das ist der menschliche Makel«, sagte sie, weder angewidert noch verächtlich, noch verurteilend. Nicht einmal traurig. So ist es eben - das ist es, was Faunia der Frau, die die Schlange fütterte, auf ihre eigentümliche lakonische Weise sagen wollte: Die Berührung durch uns Menschen hinterlässt einen Makel, ein Zeichen, einen Abdruck. Unreinheit, Grausamkeit, Missbrauch, Irrtum, Ausscheidung, Samen - der Makel ist untrennbar mit dem Dasein verbunden. Er hat nichts mit Ungehorsam zu tun. Er hat nichts mit Gnade oder Rettung oder Erlösung zu tun. Er ist in jedem. Eingeboren. Verwurzelt. Bestimmend. Der Makel, der schon da ist, bevor irgendeine Spur davon zu erkennen ist. Es ist nichts zu sehen, und doch ist er da. Der Makel, der so wesenseigen ist, dass er kein Zeichen braucht. Der Makel, der dem Ungehorsam vorausgeht, der den Ungehorsam einschließt und jedes Erklären und Begreifen übersteigt. Darum sind all diese Reinigungen ein Witz. Noch dazu ein barbarischer. Die Fantasie der Reinheit
Weitere Kostenlose Bücher