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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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ist ekelhaft. Sie ist verrückt. Was ist denn das Streben nach Reinheit anderes als eine weitere Unreinheit? Faunias Aussage über diesen Makel lautet lediglich, dass er unvermeidlich ist. Ihr Standpunkt ist kaum verwunderlich: die mit dem unvermeidlichen Makel behafteten Wesen, die wir sind. Versöhnt mit der schrecklichen, elementaren Unvollkommenheit. Faunia ist wie die Griechen, wie Colemans Griechen. Wie ihre Götter. Sie sind kleinlich. Sie streiten sich. Sie kämpfen miteinander. Sie hassen. Sie morden. Sie ficken. Ihr Zeus will die ganze Zeit nur ficken - Göttinnen, Sterbliche, Kühe, Bärinnen -, und das nicht nur in seiner gewöhnlichen Gestalt, sondern auch als tiergewordene Manifestation seiner selbst, was die Sache noch aufregender macht. Als riesiger Stier eine Frau besteigen. Als flatternder weißer Schwan bizarr in sie eindringen. Für den Götterkönig gibt es nie genug Fleisch, nie genug Verirrungen. All der Wahnsinn, den das Begehren gebärt. Die Ausschweifung. Die Verderbtheit. Die niedrigsten Lüste. Und die Wut der alles sehenden Ehefrau. Nicht der hebräische Gott, der unendlich allein und unendlich verborgen ist, der monomanisch darauf besteht, dass er der einzige Gott ist, der war, ist und sein wird und nichts Besseres zu tun hat, als sich den Kopf über Juden zu zerbrechen. Und auch nicht der seiner Sexualität ganz und gar beraubte christliche Mensch-Gott und seine unbefleckte Mutter und all die Schuld und Scham, die diese äußerste Entrückung in uns weckt. Statt dessen der griechische Zeus, in Abenteuer verstrickt, lebensnah, ausdrucksstark, launisch, sinnlich, fruchtbar vermählt mit seinem eigenen reichen Leben, alles andere als allein, alles andere als verborgen. Stattdessen der göttliche Makel. Eine großartige, wirklichkeitsgetreue Religion, wenn Faunia Farley durch Coleman davon erfahren hätte. Die überhebliche Fantasie behauptet: gestaltet nach dem Bilde Gottes - na gut, aber nicht unseres Gottes, sondern ihres Gottes, des Gottes der Griechen. Des verdorbenen Gottes. Des unreinen Gottes. Des Lebensgottes schlechthin. Gestaltet nach dem Bilde des Menschen.
    »Ja, ich schätze, das ist die Tragödie, wenn Menschen Krähen aufziehen«, sagte die Frau, die Faunia nicht ganz verstanden, aber auch nicht ganz missverstanden hatte. »Sie erkennen ihre eigenen Artgenossen nicht. Prince jedenfalls erkennt sie nicht, obwohl er es eigentlich sollte. Das nennt man Prägung. Prince ist eine Krähe, die nicht weiß, wie sie sich als Krähe verhalten soll.«
    Plötzlich begann Prince zu krächzen: kein Krähenkrächzen, sondern eins, das er durch Zufall selbst entdeckt hatte und das die anderen Krähen verrückt machte. Der Vogel saß jetzt wieder auf der Oberkante der Tür und kreischte geradezu.
    Mit einem verführerischen Lächeln drehte Faunia sich um und sagte: »Ich fasse das als Kompliment auf, Prince.«
    »Er macht die Schulkinder nach, die herkommen und ihn nachmachen«, erklärte die Frau. »Diese Kinder, die mit Klassenausflügen kommen und vor dem Krähenkäfig wie eine Krähe krächzen. Das hat er von den Kindern. Die Kinder haben es ihm vorgemacht. Er hat seine eigene Sprache erfunden, und er hat sie von Kindern.«
    Mit fremdartiger Stimme sagte Faunia: »Mir gefällt diese fremdartige Stimme, die er sich erfunden hat.« Inzwischen war sie wieder zur Voliere gegangen und wenige Zentimeter von der Tür entfernt stehen geblieben. Sie hob die Hand, die Hand mit dem Ring, und sagte zu dem Vogel: »Hier. Hier. Sieh mal, was ich dir zum Spielen mitgebracht hab.« Sie zog den Ring vom Finger und hielt ihn hoch, damit Prince ihn aus nächster Nähe begutachten konnte. »Er mag meinen Opalring.«
    »Meistens geben wir ihm Schlüssel.«
    »Tja, er hat's eben zu was gebracht. Haben wir das nicht alle? Hier. Dreihundert Dollar«, sagte Faunia. »Na, komm, du kannst damit spielen. Erkennst du keinen teuren Ring, wenn man dir einen anbietet?«
    »Er wird ihn nehmen«, sagte die Frau. »Er wird ihn in die Voliere mitnehmen. Er ist wie eine Packratte. Er stopft sein Futter in die Ritzen der Rückwand und klopft es mit dem Schnabel fest.«
    Die Krähe hielt den Ring jetzt fest im Schnabel und wandte den Kopf ruckartig von einer Seite zur anderen. Dann fiel der Ring zu Boden. Sie hatte ihn fallen lassen.
    Faunia bückte sich, hob ihn auf und bot ihn der Krähe noch einmal an. »Wenn du ihn fallen lässt, schenke ich ihn dir nicht. Das weißt du. Dreihundert Dollar. Ich schenke dir einen Ring für

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