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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Opfer anzubieten, wenn wir ihm damit auf zauberische Weise ermöglichen könnten, das beispielhafte Leben fortzusetzen, das ihm, wie Herb Keble selbst zugegeben hatte, vor zwei Jahren praktisch gestohlen worden war.
    Coleman wurde neben Iris beigesetzt. Die Jahreszahlen auf ihrem Grabstein lauteten 1932-1996. Auf seinem würde 1926-1998 stehen. Wie unverblümt diese Zahlen sind. Und wie wenig sie über das mitteilen, was geschehen ist.
    Ich hörte den Anfang des Kaddisch, bevor mir bewusst wurde, dass jemand es sprach. Einen Augenblick lang glaubte ich, der Klang der Worte dringe von einem anderen Teil des Friedhofs an mein Ohr, doch er kam von der gegenüberliegenden Seite des Grabs, wo Mark Silk - der jüngste Sohn, der zornige Sohn, der, wie seine Schwester, die größte Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte - allein dastand, das Buch in der Hand, die Jarmulke auf dem Kopf, und das bekannte hebräische Gebet mit leiser, tränenerstickter Stimme sprach.
    Yisgadal, v'yiskadash...
    Die meisten Menschen in Amerika, unter anderem ich und vermutlich Marks Geschwister, wissen nicht, was diese Worte bedeuten, doch beinahe jeder erkennt die ernüchternde Botschaft, die sie transportieren: Ein Jude ist tot. Als wäre der Tod nicht die Konsequenz des Lebens, sondern die Konsequenz eines Lebens als Jude.
    Als Mark geendet hatte, klappte er das Buch zu, und dann, nachdem er alle mit einer grimmig-heiteren Ruhe erfüllt hatte, wurde er selbst von Hysterie überwältigt. Und so endete Colemans Beerdigung: Wir alle waren wie gelähmt, diesmal, weil wir sahen, wie Mark die Fassung verlor, wie er hilflos fuchtelte und mit weit aufgerissenem Mund klagte. Diese wilden Klagelaute, älter noch als das Gebet, das er gesprochen hatte, wurden immer schriller, bis er seiner Schwester, als er sie mit ausgestreckten Armen auf sich zukommen sah, das verzerrte Silk-Gesicht zuwandte und mit schier kindlichem Erstaunen rief: »Wir werden ihn nie wiedersehen!«
    Ich dachte nicht meinen großmütigsten Gedanken. Großmütige Gedanken fielen mir an jenem Tag nicht leicht. Ich dachte: Was für einen Unterschied sollte das schon machen? Du warst nicht so versessen darauf, ihn zu sehen, als er noch da war.
    Mark Silk hatte sich offenbar vorgestellt, dass sein Vater für immer da sein würde, damit er ihn hassen konnte. Damit er ihn hassen und hassen und hassen und hassen und ihm dann vielleicht, wenn er es für richtig hielt, wenn er die Anklagen zu einem Crescendo getrieben und Coleman mit der Knute seines Sohneshasses bis an den Rand des Todes geprügelt hatte, vergeben konnte. Er hatte gedacht, Coleman würde so lange bleiben, bis das ganze Drama inszeniert werden konnte, als befänden er und sein Vater sich nicht hier, im Leben, sondern in einem dem Dionysos geweihten Amphitheater am Südhang der Akropolis, wo die Einheit von Zeit, Ort und Handlung streng gewahrt und der große kathartische Zyklus jährlich vor den Augen von zehntausend Zuschauern aufgeführt wurde. Das menschliche Bedürfnis nach einem Beginn, einem Mittelteil und einem Ende - einem Ende, dessen Wucht der des Beginns und des Mittelteils angemessen ist - wird nirgends so gründlich befriedigt wie in den Dramen, die Coleman am Athena College unterrichtete. Doch wenn ein Erwachsener von Ereignissen außerhalb der klassischen Tragödie des 5. Jahrhunderts vor Christus erwartet, dass sie ein Ende oder gar eine gerechte und ideale Vollendung finden, so zeugt das von einem törichten Festhalten an einer Illusion.
    Man begann sich vom Grab zu entfernen. Ich sah die Hollenbecks zwischen Grabsteinen hindurch zur nahen Straße gehen - Smoky hatte seinen Arm um die Schultern seiner Frau gelegt und führte sie fürsorglich davon. Ich sah Nelson Primus, den jungen Anwalt, der Coleman in der Auseinandersetzung um die »dunklen Gestalten« vertreten hatte, in Begleitung einer schwangeren, weinenden jungen Frau, vermutlich seiner Ehefrau. Ich sah Mark mit seiner Schwester, die ihn noch immer trösten musste, und ich sah Jeff und Michael, die diese ganze Feier so gekonnt organisiert hatten, ein paar Schritte von mir entfernt stehen und leise mit Herb Keble sprechen. Ich selbst konnte nicht gehen, und zwar wegen Les Farley. Irgendwo außerhalb dieses Friedhofs und keines Verbrechens beschuldigt, lebte er ungestört ein gewaltsames Leben und schnitzte sich seine eigene brutale Wirklichkeit zurecht - ein Barbar, der aus den inneren Gründen, die alles rechtfertigten, was er sich vornahm, bekämpfte,

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