Der menschliche Makel
somit im Gemeinwesen Massachusetts nicht mehr geeignet, irgendjemanden zu belehren. Ich nehme Viagra, Nathan. Das ist La Belle Dame sans Merci. All dieses Glück, all diese Turbulenzen verdanke ich nur Viagra. Ohne Viagra wäre das alles nicht passiert. Ohne Viagra hätte ich ein zu meinem Alter passendes Weltbild und vollkommen andere Ziele. Ohne Viagra besäße ich die Würde eines älteren Gentleman, der kein Verlangen verspürt und sich korrekt benimmt. Ich würde nichts Unvernünftiges tun. Ich würde nichts tun, das unschicklich, übereilt, unüberlegt und für alle Beteiligten möglicherweise katastrophal ist. Ohne Viagra könnte ich in den letzten Jahren meines Lebens fortfahren, die weite, unpersönliche Perspektive eines erfahrenen und in Ehren pensionierten Mannes zu entwickeln, der die sinnlichen Genüsse des Lebens schon längst aufgegeben hat. Ich könnte fortfahren, tiefgründige philosophische Schlüsse zu ziehen und stützenden moralischen Einfluss auf die junge Generation zu nehmen, anstatt mich dem sexuellen Rausch und damit dem fortwährenden Ausnahmezustand hinzugeben. Dank Viagra habe ich Zeus' amouröse Verwandlungen verstanden. So hätten sie Viagra nennen sollen: Sie hätten es Zeus nennen sollen.«
Wundert er sich, dass er mir all das erzählt? Vielleicht ja. Doch das Ganze hat ihn zu sehr belebt und in Schwung gebracht, als dass er jetzt aufhören könnte. Der Impuls ist derselbe wie vorhin, als er mit mir tanzen wollte. Ja, dachte ich, die trotzige Reaktion auf die Demütigung besteht nicht mehr darin, dieses Buch zu schreiben, sondern mit Faunia zu vögeln. Aber ihn treibt noch mehr als das. Er hat den Wunsch, das Tier loszulassen, diese Kraft freizusetzen - für eine halbe Stunde, für zwei Stunden, für wie lange auch immer - und erlöst diesem natürlichen Drang nachzugeben. Er war lange verheiratet. Er hat Kinder. Er war Dekan an einem College. Er hat vierzig Jahre lang getan, was getan werden musste. Er war beschäftigt, und der natürliche Drang, dieses Tier, war in einer Kiste eingesperrt. Und jetzt ist die Kiste geöffnet. Dekan sein, Vater sein, Ehemann, Wissenschaftler, Lehrer sein, Bücher lesen, Vorlesungen halten, Seminararbeiten beurteilen, Zensuren verteilen - all das ist vorbei. Mit Einundsiebzig ist man natürlich nicht mehr das begeisterte, geile Tier, das man mit Sechsundzwanzig war. Doch die Reste des Tiers, die Reste dieses natürlichen Drangs - er spürt jetzt diese Reste. Und dafür ist er dankbar, deswegen ist er glücklich. Er ist mehr als glücklich: Er hat einen Kitzel entdeckt, und dadurch ist er bereits an Faunia gebunden, stark gebunden. Das hat nichts mit Familie zu tun - die Biologie braucht ihn nicht mehr. Es hat nichts mit Familie, mit Verantwortung oder mit Geld zu tun, nichts mit einer gemeinsamen Philosophie oder der Liebe zur Literatur, nichts mit großen Diskussionen über erhabene Ideen. Nein, was ihn an sie bindet, ist der Kitzel. Morgen hat er vielleicht Krebs, und das war's dann. Aber heute hat er den Kitzel.
Warum erzählt er mir das? Weil man sich selbst nur dann so bereitwillig aufgeben kann, wenn ein anderer davon weiß. Und er ist bereit, seinerseits aufgegeben zu werden, dachte ich, weil nichts auf dem Spiel steht. Weil es keine Zukunft gibt. Weil er Einundsiebzig ist und sie Vierunddreißig. Er macht es nicht, um etwas zu lernen oder zu planen, sondern aus Abenteuerlust. Er macht es wie sie: solange es gut geht. Diese siebenunddreißig Jahre geben ihm viel Handlungsfreiheit. Ein alter Mann und, ein letztes Mal, die sexuelle Kraft. Was könnte für irgendjemanden anrührender sein?
»Natürlich muss ich sie fragen, was sie eigentlich von mir will«, sagte Coleman. »Woran denkt sie wirklich? An eine aufregende neue Erfahrung: mit einem Mann zusammen zu sein, der ihr Großvater sein könnte?«
»Ich nehme an, es gibt einen Typ von Frau, für den das tatsächlich eine aufregende Erfahrung ist«, sagte ich. »Alle anderen Typen gibt es ja ebenfalls, warum also nicht auch diese? Es gibt offenbar irgendwo eine Behörde, Coleman, eine Bundesbehörde, die für alte Männer zuständig ist, und sie kommt von dieser Behörde.«
»Als junger Mann«, fuhr Coleman fort, »habe ich mich nie mit hässlichen Frauen eingelassen. Aber in der Navy hatte ich einen Freund, Farriello, und hässliche Frauen waren seine Spezialität. Wenn wir in Norfolk zum Tanzabend einer Kirchengemeinde oder der Truppenbetreuung gingen, steuerte Farriello sofort auf das
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