Der menschliche Makel
gut versteckt waren, irgendwo in entlegenen Winkeln alter Gebäude, von denen nur der Betriebsingenieur des Colleges etwas wusste und zu denen nur er Zugang hatte. Es mochte verwegen sein, dass Holly seine Geliebten aus der ihm unterstellten Putzkolonne rekrutierte und sich mit ihnen auf dem Campus vergnügte, doch andererseits organisierte er sein Liebesleben ebenso gewissenhaft wie seine Tätigkeit für das College. Mit derselben professionellen Effizienz, mit der er dafür sorgte, dass die Straßen auf dem Campus nach einem Schneesturm innerhalb von Stunden geräumt waren, konnte er sich, wenn es sein musste, einer seiner Geliebten entledigen.
»Was soll ich also tun?«, fragte mich Coleman. »Ich hatte nichts dagegen, diese Sache geheim zu halten, selbst als ich noch nichts von diesem gewalttätigen Exmann wusste. Ich hab geahnt, dass irgendwas Derartiges kommen würde. Lassen wir mal beiseite, dass ich früher Dekan in dem Laden war, in dem sie die Toiletten putzt. Ich bin Einundsiebzig, und sie ist Vierunddreißig - ich war sicher, das würde für einen Skandal ausreichen, und darum dachte ich, als sie sagte, die Sache gehe keinen etwas an: Sie hat es mir abgenommen. Ich brauche das Thema nicht mal anzuschneiden. Wir sollen uns verstecken, als wären wir Ehebrecher? Ich hab nichts dagegen. Darum sind wir zum Abendessen nach Vermont gefahren. Darum grüßen wir einander nicht, wenn wir uns im Postamt begegnen.«
»Vielleicht hat irgendjemand Sie in Vermont gesehen. Vielleicht hat jemand Sie zusammen in Ihrem Wagen gesehen.«
»Ja, so wird's wohl gewesen sein. Nur so kann es gewesen sein.
Vielleicht hat Farley selbst uns gesehen. Herrgott, Nathan, ich hatte seit fast fünfzig Jahren kein Rendezvous mehr mit einer Frau. Ich dachte, das Restaurant ... Ich bin ein Dummkopf.«
»Nein, es war keine Dummheit. Nein, nein, Sie wollten bloß mal raus. Hören Sie«, sagte ich, »was Delphine Roux betrifft - ich kann nicht behaupten, dass ich verstehe, warum sie sich so leidenschaftlich dafür interessiert, mit wem Sie jetzt, da Sie pensioniert sind, ins Bett gehen, aber wir beide wissen, dass bestimmte Leute nicht gut mit Menschen zurechtkommen, die sich nicht konventionell verhalten. Lassen Sie uns also einfach annehmen, dass sie zu diesen bestimmten Leuten gehört. Zu denen Sie allerdings nicht gehören. Sie sind frei. Ein freier, unabhängiger Mann. Ein freier, unabhängiger alter Mann. Sie haben viel verloren, als Sie Ihre Stelle aufgegeben haben, aber was ist mit dem, was Sie gewonnen haben? Es ist nicht mehr Ihre Aufgabe, irgendjemanden zu belehren - das haben Sie selbst gesagt. Und das Ganze ist auch kein Test, ob Sie es schaffen, alle gesellschaftlichen Hemmungen zu überwinden. Sie mögen sich jetzt im Ruhestand befinden, aber Sie sind ein Mann, der praktisch sein ganzes Leben innerhalb der Grenzen der örtlichen akademischen Gemeinschaft verbracht hat, und wenn ich Sie recht verstanden habe, ist diese Situation für Sie etwas äußerst Ungewöhnliches. Vielleicht wollten Sie nie, dass Faunia Ihnen über den Weg läuft. Vielleicht glauben Sie sogar, dass Sie nicht einmal hätten wollen sollen, dass sie Ihnen über den Weg läuft. Aber auch die stärksten Befestigungen sind durchsetzt mit Schwachstellen, und so ist etwas hindurchgeschlüpft, mit dem Sie überhaupt nicht gerechnet haben. Mit Einundsiebzig lernen Sie Faunia kennen; 1998 kommt Viagra auf den Markt; die fast schon vergessene Sache taucht wieder auf. Dieser enorme Trost. Diese ungebremste Kraft. Diese verwirrende Intensität. Aus dem Nichts ist es da: Coleman Silks letztes großes Abenteuer. Wahrscheinlich das letzte große Last-Minute-Abenteuer. Und die Einzelheiten von Faunia Farleys Biografie stehen in krassem Gegensatz zu Ihrem eigenen Lebenslauf. Sie stimmen nicht mit den Regeln des Anstands überein, die diktieren, mit wem ein Mann Ihres Alters und Ihrer gesellschaftlichen Position vögeln darf - wenn er überhaupt mit jemandem vögeln darf. Hat sich denn das, was geschehen ist, nachdem Sie die Wörter ›dunkle Gestalten‹ ausgesprochen hatten, nach den Vorgaben des Anstands gerichtet? Hat sich Iris' Schlaganfall nach den Vorgaben des Anstands gerichtet? Ignorieren Sie diesen blöden, idiotischen Brief. Warum sollten Sie sich davon irremachen lassen?«
»Diesen blöden, idiotischen anonymen Brief«, sagte er. »Wer hat mir je einen anonymen Brief geschickt? Welcher vernünftig denkende Mensch schickt irgendjemandem überhaupt einen
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