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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Hawthorne, in der Weisheit der überragenden Toten.
    Es brauchte Zeit, mit den Schwierigkeiten fertig zu werden, die diese Entscheidung nach sich gezogen hatte, es brauchte Zeit und die Geduld eines Reihers, um die Sehnsüchte nach all den Dingen, die ich hinter mir gelassen hatte, zu besiegen, doch nach fünf Jahren hatte ich ein solches Geschick dafür entwickelt, meine Tage mit chirurgischer Präzision zu unterteilen, dass es in dem ereignislosen Leben, für das ich mich entschieden hatte, keine Stunde gab, die für mich nicht von Bedeutung erfüllt war. Von Notwendigkeit. Ja sogar von Erregung. Ich gab mich nicht mehr dem verderblichen Wunsch nach etwas anderem hin, und das Letzte, was ich glaubte, ertragen zu können, war die beständige Gegenwart von jemand anderem. Die Musik, die ich nach dem Abendessen höre, ist keine Erlösung von der Stille, sondern so etwas wie ihre Konkretisierung: Wenn ich jeden Abend ein, zwei Stunden lang Musik höre, beraubt mich das nicht der Stille - vielmehr ist diese Musik die Verwirklichung der Stille. Im Sommer schwimme ich jeden Morgen als Erstes eine halbe Stunde in meinem Teich, und in den anderen Monaten wandere ich, nachdem ich den Vormittag mit Arbeit am Schreibtisch verbracht habe und sofern der Schnee das Wandern nicht unmöglich macht, fast jeden Nachmittag ein paar Stunden auf dem Berg herum. Der Krebs, der mich die Prostata gekostet hat, ist nicht wieder aufgetreten. Ich bin fünfundsechzig, ich bin gesund und fit, ich arbeite hart - und ich weiß, worauf es ankommt. Ich muss es wissen.
    Warum also sollte ich, nachdem ich das Experiment des radikalen Rückzugs in ein reiches, erfülltes, allein gelebtes Leben verwandelt habe - warum sollte ich mich plötzlich und ohne Vorwarnung einsam fühlen? Was ist es, nach dem ich mich sehne? Was vergangen ist, ist vergangen. Die Anstrengung darf nicht nachlassen, die Entsagung darf nicht rückgängig gemacht werden. Was genau ist es, nach dem ich mich sehne? Ganz einfach: Es ist das, wogegen ich eine Abneigung entwickelt habe. Es ist das, dem ich den Rücken gekehrt habe. Das Leben. Die Verstrickung in das Leben.
    So wurde Coleman mein Freund. Und so gab ich die Beständigkeit des einsamen Lebens in meinem abgelegenen Haus auf, wo ich die Keulenschläge bewältigte, die der Krebs mir versetzt hatte. Coleman Silk tanzte mich zurück ins Leben. Erst das Athena College, dann mich - er war ein Mann, der etwas zuwege brachte. Der Tanz, der unsere Freundschaft besiegelte, bewirkte auch, dass ich seine Katastrophe zu meinem Thema machte. Dass ich seine Maske zu meinem Thema machte. Dass die angemessene Enthüllung seines Geheimnisses ein Problem darstellte, das ich zu lösen hatte. So geschah es, dass ich nicht mehr imstande war, mich von den Turbulenzen und Heftigkeiten fernzuhalten, vor denen ich geflohen war. Kaum hatte ich einen Freund gefunden, da stürmte alle Bosheit der Welt wieder auf mich ein.
    Später am Nachmittag nahm Coleman mich mit zu einer zehn Kilometer entfernten Milchfarm, wo Faunia mietfrei wohnte, weil sie als Gegenleistung manchmal beim Melken half. Die Farm bestand seit einigen Jahren und war von zwei geschiedenen Frauen aufgebaut worden, Umweltschützerinnen mit Collegeabschluss, die beide aus in Neuengland ansässigen Farmersfamilien stammten und sich zusammengetan hatten, um ihr Wissen miteinander zu teilen - das und die Erziehung von sechs kleinen Kindern, die, wie sie ihren Kunden gern erzählten, auch ohne Sesamstraße wussten, wo die Milch eigentlich herkam - und um das beinahe Unmögliche zu schaffen: ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Rohmilch zu verdienen. Es war ein einzigartiges Unternehmen, ganz anders als die großen Milchfarmen, denn die Atmosphäre hatte nichts Unpersönliches, Fabrikartiges. Die Molkerei hieß Organic Lifestock und war nicht so, wie die meisten heutigen Menschen sich eine Molkerei vorstellen. Die produzierte und abgefüllte Rohmilch konnte man in den Lebensmittelläden der Umgebung und in einigen Supermärkten kaufen, doch Stammkunden, die wöchentlich zehn Liter oder mehr abnahmen, konnten sich ihre Milch auch in der Molkerei abholen.
    Sie hatten nur elf Kühe, reinrassige Jerseys, von denen jede anstatt einer nummerierten Ohrmarke einen richtigen altmodischen Kuhnamen hatte. Die Milch wurde nicht mit der der großen Herden vermischt, wo die Tiere mit allerlei Medikamenten behandelt werden, ihre Qualität war weder durch Pasteurisierung noch durch Homogenisierung

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