Der menschliche Makel
Untersuchungskommission der Fakultät zusammen mit dem von ihr unterschriebenen Abschlussbericht vorgelegt hatte. Vielleicht hatte sie nicht gewusst, dass man Coleman auf seine Bitte Fotokopien ihrer Notizen sowie aller anderen Schriftstücke im Zusammenhang mit der Beschwerde gegen ihn ausgehändigt hatte. Vielleicht war es ihr aber auch egal, ob er herausfand, wer sein Geheimnis entdeckt hatte: Vielleicht wollte sie ihn mit der bedrohlichen Aggressivität einer anonymen Anklage quälen und ihm zugleich fast unverhüllt vor Augen führen, dass diese Anklage von einer Person stammte, die jetzt keineswegs machtlos war.
Am Nachmittag rief Coleman mich an und bat mich, vorbeizukommen und mir den anonymen Brief anzusehen. Die von Delphine Roux verfassten Dokumente aus den Dunkle-Gestalten-Unterlagen waren ordentlich auf dem Küchentisch ausgebreitet, sowohl die Originale als auch die Fotokopien, auf denen er mit Rotstift alle Eigenheiten unterstrichen hatte, die sich seiner Meinung nach auch in dem anonymen Brief fanden. Es waren hauptsächlich isolierte Buchstaben - ein H, ein S, ein X, hier ein bauchiges E an einem Wortende, dort ein E, das eher wie ein I aussah, weil es sich an das benachbarte D schmiegte, und schließlich eines, das einem R vorausging und wesentlich konventioneller wirkte -, doch obgleich die Ähnlichkeiten zwischen den Buchstaben in dem Brief und denen in den Dokumenten bemerkenswert waren, erschien es mir erst, als Coleman mir seinen Namen auf dem Briefumschlag und dann in den Notizen zu Delphine Roux' Gesprächen mit Tracy Cummings zeigte, erwiesen, dass er diejenige überführt hatte, die ihn hatte überführen wollen.
Jeder weiß,
dass Sie eine misshandelte,
analphabetische Frau,
die halb so alt ist wie Sie,
sexuell ausbeuten.
Während ich den Brief in Händen hielt und so sorgfältig wie möglich - und wie Coleman es von mir erwartete - die Wortwahl und die Zeilenaufteilung analysierte, als wäre dieses Schriftstück nicht von Delphine Roux, sondern von Emily Dickinson verfasst, erklärte mir Coleman, in ihrer wilden Klugheit sei es Faunia selbst gewesen, die sie beide zu der Geheimhaltung verpflichtet habe, welche Delphine Roux nun irgendwie durchbrochen hatte und die nun aufzudecken sie mehr oder weniger unverblümt drohte. »Ich will nicht, dass sich irgendjemand in mein Leben einmischt. Ich will bloß einmal die Woche einen heimlichen, ruhigen Fick mit einem Mann, der schon alles hinter sich hat und nicht mehr ins Schwitzen kommt. Und das geht kein Schwein was an.«
Das Schwein, das Faunia, wie sich herausstellte, in erster Linie meinte, war Lester Farley, ihr Exmann. Nicht dass er allein es gewesen wäre, der ihr das Leben schwer gemacht hatte. »Wie denn auch? Ich war ja auf mich selbst gestellt, seit ich mit Vierzehn abgehauen bin.« Mit Siebzehn beispielsweise hatte sie in Florida als Kellnerin gearbeitet, und ihr damaliger Freund hatte sie nicht nur verprügelt und ihre Wohnung demoliert, sondern ihr auch den Vibrator gestohlen. »Das war schlimm«, sagte Faunia. Und der Auslöser war wie immer Eifersucht gewesen. Sie hatte einen anderen Mann falsch angesehen, sie hatte einen anderen Mann veranlasst, sie falsch anzusehen, sie hatte nicht befriedigend erklären können, wo sie in der vergangenen halben Stunde gewesen war, sie hatte ein falsches Wort gesagt, sie hatte die falsche Intonation benutzt, sie hatte - ein haltloser Vorwurf, wie sie fand - signalisiert, dass sie eine unzuverlässige, hinterhältige Schlampe war. Was auch immer der Grund war - der Kerl, mit dem sie gerade zusammen war, stand fäusteschwingend und stiefeltretend vor ihr, und Faunia schrie um ihr Leben.
Im Jahr vor ihrer Scheidung hatte Lester Farley sie zweimal krankenhausreif geprügelt. Er lebte noch immer irgendwo in dieser Gegend und arbeitete seit dem Konkurs im Straßenbautrupp der Gemeinde, und da es keinen Zweifel daran gab, dass er noch immer verrückt war, fürchtete sie, wie sie sagte, ebenso um Coleman wie um sich selbst, sollte Lester je herausfinden, was zwischen ihr und Coleman lief. Sie hatte den Verdacht, der wahre Grund dafür, dass Smoky von einem Tag auf den anderen nichts mehr von ihr hatte wissen wollen, sei irgendein Zusammenstoß, irgendeine Auseinandersetzung mit Les Farley gewesen, weil Les, der seiner Exfrau in unregelmäßigen Abständen nachschlich, irgendwie herausgefunden hatte, dass sie und ihr Boss ein Verhältnis hatten, auch wenn Hollenbecks Liebesnester bemerkenswert
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