Der menschliche Makel
anonymen Brief?«
»Vielleicht ist das eine französische Sitte«, sagte ich. »Kommt das nicht oft bei Balzac vor? Bei Stendhal? Gibt es in Rot und Schwarz nicht eine Menge anonymer Briefe?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Es ist doch so: Aus irgendeinem Grund wird alles, was Sie tun, mit Rücksichtslosigkeit und alles, was Delphine Roux tut, mit Tugendhaftigkeit erklärt. Ist die Mythologie nicht voller Riesen, Ungeheuer und Schlangen? Indem sie Sie als Ungeheuer definiert, macht sie sich selbst zur Heldin. Dies ist ihr Kampf gegen das Ungeheuer. Dies ist ihre Rache für Ihre Unterdrückung der Machtlosen. Sie gibt dieser Sache einen Dreh ins Mythologische.«
An dem nachsichtigen Lächeln, mit dem er mich bedachte, erkannte ich, dass ihn meine - wenn auch ins Scherzhafte gewendete - prähomerische Deutung der anonymen Bezichtigung nicht sehr überzeugte. »Mythenbildung ist keine Erklärung für ihre Denkprozesse«, erwiderte er. »Dazu fehlt es ihr an Phantasie. Ihr Metier sind die Geschichten, die Bauern erzählen, um ihr Unglück zu erklären. Der böse Blick. Flüche und Verwünschungen. Ich habe Faunia verzaubert. Ihr Metier sind Geschichten voller Hexen und Zauberer.«
Wir amüsierten uns jetzt großartig, und ich merkte, dass ich durch meine Bemühungen, ihn von seinem heftigen Ärger abzulenken, indem ich sein Recht auf Lust und Vergnügen betonte, seine Sympathie für mich verstärkte und meine Sympathie für ihn enthüllte. Ich war begeistert, und das war mir sehr wohl bewusst. Mein Eifer, ihm zu gefallen, überraschte mich; ich spürte, dass ich zu viel sagte, zu viel erklärte, dass ich die Distanz verlor und überdreht war, wie man es als Kind ist, wenn man denkt, der Junge, der nebenan eingezogen ist, könnte ein wirklich guter Freund werden, und man sich vom Schwung der Werbung um ihn mitreißen lässt, sodass man Dinge tut, die man normalerweise nicht tun würde, und vielleicht viel mehr preisgibt, als man eigentlich will. Doch seit er am Tag nach Iris' Tod an meine Tür gehämmert und vorgeschlagen hatte, dass ich Dunkle Gestalten für ihn schrieb, hatte ich - ohne es zu beabsichtigen oder zu planen - eine tiefe Freundschaft zu Coleman Silk entwickelt. Seine Probleme beschäftigten mich, aber ich betrachtete sie nicht als eine Art geistiger Übung. Sie erschienen mir bedeutsam, und das trotz meiner Entschlossenheit, mich in der mir verbleibenden Zeit nur noch den täglichen Anforderungen der Arbeit zu widmen, mich nur noch von ernsthafter Arbeit in Anspruch nehmen zu lassen und keinerlei andere Abenteuer zu suchen - mich nicht einmal mehr um mein eigenes Leben zu kümmern, geschweige denn um das eines anderen.
Das alles wurde mir mit einiger Enttäuschung bewusst. Eine Preisgabe menschlicher Gemeinschaft, eine Zurückweisung aller Ablenkung, ein selbst auferlegter Verzicht auf jeden professionellen Ehrgeiz, auf gesellschaftliche Verblendung, auf das Gift der Kultur, auf verlockende Intimität, ein rigoroses Einsiedlerleben, wie es von Asketen praktiziert wird, die sich in Höhlen oder Zellen oder abgelegene Waldhütten zurückziehen, erfordert ein härteres Holz als das, aus dem ich geschnitzt bin. Ich hatte gerade mal fünf Jahre allein hinter mich gebracht - fünf Jahre Lesen und Schreiben in einem hübschen Zweizimmerhäuschen auf halber Höhe des Madamaska, zwischen einem kleinen Teich und einer hinter dem Gebüsch jenseits des Feldwegs gelegenen, vier Hektar großen Sumpfwiese, wo abends die Kanadagänse auf dem Zug nach Süden rasten und ein geduldiger Graureiher den ganzen Sommer über allein auf Beutesuche geht. Das Geheimnis, wie man mit einem Minimum an Schmerz ein Leben im Trubel der Welt führt, besteht darin, so viele Leute wie möglich dazu zu bringen, die eigene Verblendung zu teilen; der Trick, den man beherrschen muss, wenn man allein hier oben lebt, weit entfernt von den aufregenden Verstrickungen, Verführungen und Erwartungen, abgetrennt vor allem von der eigenen Intensität, ist, die Stille zu organisieren, den Überfluss der Stille hier oben auf dem Berg als Kapital zu betrachten, die Stille als einen Reichtum zu begreifen, der exponential zunimmt. Die Stille, die einen umgibt, muss der einzige Vertraute sein, den man hat, die Quelle des Vorteils, den man gegenüber anderen genießt. Der Trick besteht (wieder einmal Hawthorne) darin, Rückhalt zu finden im »Verkehr eines einsamen Geistes mit sich selbst«. Das Geheimnis ist, Rückhalt zu finden in Menschen wie
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