Der Metzger bricht das Eis
dermaßen große Geheimnisse, die, ohne mit der Wimper zu zucken, anderen das Leben kosten sollen?«
Was immer der Grund dieses Anschlages ist, eines steht für den Metzger fest: Sie wurden nicht hier heraufgeführt, um nach Ada und dem Urgroßvater Johann Kalcher zu suchen.
Hinter einem Baum versteckt klärt Toni Schuster die Lage, durchaus erstaunt darüber, wer da einige Meter schräg vor ihm mit einem weißen Overall und einem schallgedämpften Gewehr im Schnee liegt. Hochkonzentriert und die Waffe fest im Anschlag, blickt sein Gegner durch das Zielfernrohr. Einige Meter abseits und schon ein Stückchen näher zu Toni Schuster sitzt eine ihm unbekannte Person, mit Rebschnüren gefesselt und Klebebändern zum Schweigen gebracht, zappelnd an einen Baum gebunden. Viel Phantasie braucht Toni Schuster jetzt nicht, um zu ahnen, wer dieser Herr sein könnte.
Kurz überlegt er, dann ist ihm klar: Er kann keine Voraussage treffen über den Ausgang der bevorstehenden Auseinandersetzung, folglich muss er den Gefangenen zuerst befreien. Behutsam setzt er einen Fuß vor den anderen, weit ist es nicht, und das Gezappel des Gefesselten kommt ihm als Geräuschkulisse zugute. Dort angekommen, nimmt er Blickkontakt auf, hält sich dabei vielsagend den Zeigefinger vor den Mund und die ausgeklappte Klinge seines Messers in die Luft, schneidet die Rebschnüre durch und deutet dem Befreiten, noch sitzen zu bleiben.
Dann geht es um alles. Einige Schritte legt er noch vorsichtig zurück, heftig pulsiert es in seinen Ohren, schließlich ist es so weit: Ohne zu zögern, wiederholt Toni Schuster aus dem Stand den vorhin erprobten Sprung und landet diesmal weder rollend noch im Schnee.
Ein Ächzen dröhnt durch die Nacht, ein Schuss löst sich, und hätte der Schuss die Reichweite, er würde wahrscheinlich irgendwo oben am Bürgljoch einschlagen, so biegt es das Rückgrat des Heckenschützen durch. Die Frage, die sich Toni Schuster allerdings nach dem mittlerweile zweiten Messerhieb stellt, ist: Hat er die Klinge seines Multifunktions-Alleskönners überhaupt ausgeklappt? Denn alles, was die beiden gezielten Angriffe auf die Flanke seines Gegners bisher ausgelöst haben, sind seltsame Kicherlaute. Beim dritten Versuch mischt sich zusätzlich noch eine Wortmeldung dazu: »Maximal kitzeln kannst du mich damit!« Dann kommt Bewegung auf neben und unter Toni Schuster. Neben ihm stürmt der eben erst Befreite durch den Wald, hinunter Richtung Weg, unter ihm dreht sich sein Gegner völlig problemlos in die Rückenlage, grinst bis über beide Ohren, erklärt: »Du schon wieder! Meine Hochachtung: Du hast wirklich Schneid, dein Wandertagsfeitel natürlich ausgenommen!« Dann erweist sich der Größenunterschied als Nachteil, denn durch die ungünstigen Hebelverhältnisse und sein mangelndes Gewicht wird Toni Schuster spielend leicht abgeschüttelt, wie ein Rechtsstaat von Lobbyisten.
So stehen sich also zwei Männer gegenüber, einer mit einer Schusswaffe, einer mit einem Taschenmesser in der Hand. Viel Zeit zu überlegen bleibt Toni Schuster nun nicht.
»Das muss ich dir schon sagen, du Knirps. Meine Bewunderung ist dir gewiss. Wir hätten Freunde werden können. Aber versprochen: Ich komm zu deiner Beerdigung.«
»Der Schütze ist Stefan Thuswalder!«, brüllt Toni Schuster nun aus voller Kehle, »und Sepp Kalcher ist unterwegs zu euch!«
Das ist das Stichwort, jetzt heißt es reagieren. Schräg vis-à-vis des Metzgers löst sich eine Gestalt aus dem Wald und nimmt Tempo auf. Laurenz Thuswalder also ist aufgebrochen und stürmt hinauf, dorthin, wo eben der heldenhafte Ruf Toni Schusters zu hören war.
Willibald Adrian Metzger springt ebenso auf. So schnell seine Beine ihn tragen, läuft er, gefolgt vom Kellner Franz, den Weg hinunter zum Holzstapel.
Und auch am Waldrand unterhalb des Schützen tut sich was. Taumelnd bricht Sepp Kalcher aus dem Dickicht heraus.
»Agnes!«, brüllt er durch die Nacht.
»Opa, wir sind hier!«, ist die Erwiderung.
»Ja, Lisl, meine Lisl!«, überschlägt sich seine Stimme.
Der Metzger erreicht, gefolgt vom Kellner Franz, den Holzstoß zuerst und findet ein herzzerreißendes Bild vor: Agnes Kalcher und ihre Enkelin sitzen Schulter an Schulter im Schnee, die Hände fest umklammert, den Oberkörper an den Holzstoß gelehnt. Lisl dürfte im Gegensatz zu ihrer Großmutter unverletzt geblieben sein. Bei Agnes Kalcher aber ist die Jacke im Bereich des Bauchraums bereits blutdurchtränkt. Zu Fuß scheint ein
Weitere Kostenlose Bücher