Der Metzger bricht das Eis
Aufbruch von hier nicht mehr möglich, und aufgebrochen werden muss schnell.
»Frau Kalcher!« Willibald Adrian Metzger geht vor den Kalcher-Damen auf die Knie. »Ich weiß zwar nicht, in welcher grauenhaften Mission Stefan Thuswalder unterwegs ist, was ich aber weiß, ist: Wir sollten hier verschwinden, so schnell wie möglich.«
»Aber Ada und Urliopa!«
Lisl Kalcher spricht. Groß sind ihre Augen.
In Anbetracht einer geladenen Waffe gehen selbst einem Multifunktionsmesser die Funktionen aus. Und weil dieser Umstand bei Stefan Thuswalder offensichtlich großes Amüsement hervorruft, er folglich seine Überlegenheit ein wenig auskostet, bleiben Toni Schuster ein paar Sekunden Zeit, sich Gedanken zu machen. Ausreichend Zeit, denn noch ehe Stefan Thuswalder die Schusswaffe zum Einsatz bringen kann, zückt Toni Schuster seine Stirnlampe und leuchtet ihm mit den Worten: » LED -Scheinwerfer, wie auf deinem Auto!« direkt ins Gesicht.
Die Aussicht aufs Bürgljoch war allerdings schöner. Ein an sich apartes, nun zu einer diabolisch grinsenden Fratze verzogenes Gesicht ist zu sehen.
»Mann, bist du gut!«, kichert Stefan Thuswalder, dabei sausen kräftige Hiebe mit dem Schaft seines Gewehrs ziellos durch die Luft. Nur die Faustschläge und die neuerliche Messerattacke von Toni Schuster sitzen, einziger Wermutstropfen dabei ist die abermals völlig ausbleibende Wirkung. Er hat ja schon viel erlebt, so etwas allerdings fällt genau in jene Kategorie, bei der er vorhin für seinen Hechtsprung Anleihe genommen hat: »Was bist du, ein Mutant?«, entkommt es ihm. Auch das Vorhaben, seinen Gegner zu Fall zu bringen und dadurch den Verlust seiner Waffe zu provozieren, scheitert trotz mehrmaliger kräftiger Rempler hangabwärts. So heftig Stefan Thuswalder auch gegen die Stämme der hohen Tannen prallt, nichts als ein beängstigendes Kichern ist zu hören. Dann allerdings wird er schlagartig ruhig.
»Stopp!« Stefan Thuswalders Bruder Laurenz ist aufgetaucht, der Zopf hat sich gelöst, wüst hängen ihm die Dreadlocks ins Gesicht, sein Kopf ist nach vorn, seine Arme sind leicht zur Seite gestreckt. Als stünde ein finales Duell bevor, so wartet er nun neben Toni Schuster. Einzig der Halfter fehlt, was insofern ein ohnedies unnötiges Utensil wäre, da Laurenz Thuswalder zur Überraschung Toni Schusters bereits einen Revolver in der Hand hält.
»Sprich dein Abendgebet«, schmettert er seinem Bruder entgegen.
»Laurenz?« Blinzelnd blickt Stefan Thuswalder in die Richtung seiner Bedrohung, ein ungläubiger Unterton liegt in seiner Frage, blass ist sein Gesicht, kirschrote runde Tupfen vergrößern sich auf seinem weißen Overall. Eine Zeit stehen die beiden einander wortlos gegenüber, Toni Schuster ist zur Seite getreten.
Schließlich hat Stefan Thuswalder sein Sehvermögen zurück.
»Laurenz?«, wiederholt er. Langsam hebt dieser die Hand, den Revolver auf seinen Bruder gerichtet. Dann drückt er ab, zwei Mal. Stefan Thuswalder zuckt, bleibt regungslos im Schnee stehen, aus zwei Löchern in seinem Oberkörper strömt Blut und färbt seinen Overall endgültig in ein tiefes Purpur. Den Mund geöffnet, lässt er die Waffe fallen, senkt langsam den Blick, betrachtet ungläubig die Wunden, seine Hände fassen an den Brustkorb und streichen sanft über die offenen Stellen:
»Es tut weh!«, flüstert er, dann sinkt er in die Knie.
Ein sonderbarer Zustand hat von Toni Schuster Besitz ergriffen, weit entfernt von Gefühlen wie Befriedigung, Zufriedenheit, Erleichterung. Noch nie hat er einen Menschen sterben gesehen – was ihm auch umgehend die alles entscheidende Frage ins Gedächtnis ruft, denn viel Zeit bleibt dazu nicht mehr: »Ada und der alte Kalcher, wo sind die beiden?«
Stefan Thuswalder hebt langsam den Kopf, blickt seinen Bruder an, der noch immer die Waffe auf ihn gerichtet hat, und flüstert: »Da musst du schon ihn fr…«
Ein drittes Mal durchzuckt es seinen Oberköper. Dann sinkt er seitlich behutsam in den Schnee.
55
Drei Schüsse sind zu hören, oben im Wald.
»Ich will nicht, dass Ada und dem Urliopa was passiert!« Tränen kullern Lisl Kalcher über die Wangen,
»Mach dir keine Sorgen, Lisl, die passen schon gut aufeinander auf!« Liebevoll ist der Ton Agnes Kalchers.
»Und weißt du«, beginnt der Metzger, »wir werden Ada und deinen Urgroßvater wahrscheinlich hier nicht finden. Wir wurden nur hergelockt, um, um … Frau Kalcher, wir sollten so schnell wie möglich verschwinden!«
Agnes Kalcher
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