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Der Metzger bricht das Eis

Der Metzger bricht das Eis

Titel: Der Metzger bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raab
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ein Briefumschlag in der Post glegen mit einem Foto drinnen von der leeren Aufbahrungshalle, und hinten hat wer drauf gschrieben: Verpachten kann Leben retten. Wir haben das zwar alles dem Robert gezeigt und waren uns dann einig, dass sich wahrscheinlich wer einen bösen Scherz erlaubt hat. Den Leuten im Ort haben wir damals alles zuatraut, nur einen Mord halt nicht. Trotzdem wollten wir nix riskieren und haben die Verträge unterschrieben, zumindest befristet. Die Einzigen, die uns in der schweren Zeit wirklich gholfen haben, waren dann die Thuswalders selber. Dann is die Schindlgruben baut worden, die Rennen sind losgangen, und, und …!«, und dann wird Agnes Kalcher unterbrochen.
    »Es … es war mein Bruder, ich kann es nicht fassen, ich weiß nicht, warum, ich …!« Laurenz Thuswalder ist aufgetaucht.
    Sofort stürzt er auf Agnes Kalcher zu:
    »Agnes, es tut mir so leid, es …!«
    »Wo ist Toni?«, unterbricht ihn der Metzger.
    »Keine Ahnung. Ich bin, nachdem ich ihm das Leben gerettet und meinen eigenen Bruder erschossen hab, sofort heruntergelaufen. Und jetzt bin ich hier!«
    Letzteres gilt unüberhörbar auch für Sepp Kalcher, denn nur ein Kurve weiter, genau hinter der kleinen Kapelle, vor der er seiner Frau Agnes bei strahlendem Sonnenschein im engsten Familienkreis einst das Jawort gegeben hat, stand der Motorschlitten, mit dem er von Stefan Thuswalder hierhergebracht wurde. Weit musste er also nicht laufen.
    Laurenz Thuswalder weiß, was zu tun ist: »Wir müssen dich jetzt auf den Motorschlitten heben, Agnes, es wird wehtun. Sepp, du vorne, Agnes in der Mitte, und du …«, langsam kniet er sich hin, umfasst beide Hände von Lisl Kalcher und erklärt ihr in liebevollem Ton: »… du musst jetzt ganz stark sein. Du wirst hinten sitzen, das geht sich aus, und dann klammerst du dich links und rechts ganz fest an deinen Großvater, die Oma zwischen euch, dann bist du für sie eine Stütze!«
    »Ja, unsre Lisl, eine ganz große Stütze is sie für uns!« Agnes Kalchers Stimme ist leise geworden, leichenblass ist ihr Gesicht.
    Auch dem Metzger ist jetzt mit einem Schlag die Farbe aus dem Gesicht gewichen. Immer noch steht er hinter dem ritterlich vor Lisl Kalcher knienden Laurenz Thuswalder und traut seinen Augen nicht.
    Der Ausblick ist gigantisch, die weiteren Aussichten allerdings sind eine einzige Katastrophe. Für Toni Schuster war es ja schon verwunderlich, dass Laurenz Thuswalder zur Suche nach einem kleinen Mädchen und einem greisen alten Mann offenbar bewaffnet ausrückt. Was will er in den Bergen erlegen, aufgetaute Mammuts? Der Akt des Nachladens im Anschluss an die Tötung des Bruders war dann aber doch eine Spur zu viel des Guten. In Ermangelung der für eine Flucht notwendigen Zeit sah Toni Schuster also keine andere Möglichkeit, als hinter dem dicken Stamm und den tief reichenden Ästen der nächst gelegenen Tanne unterzutauchen.
    Natürlich hat Laurenz Thuswalder nicht direkt neben sich gesucht, sondern angenommen, sein Mitstreiter hätte Reißaus genommen. Das gesamte Umfeld wurde durchforstet, während Toni Schuster jede Geräuschentwicklung des aufkommenden Windes und des nach ihm Suchenden nutzte, um die Tanne Stück für Stück weiter hinaufzuklettern. Und da hockt er jetzt und wird irgendwie das Gefühl nicht los, nicht nur für den erschossenen Stefan Thuswalder könnten die Dinge gerade anders verlaufen sein als geplant. Schnell ist Toni Schuster vom Baum herunten, betrachtet den regungslos im Schnee liegenden Körper und hält die Lupe seines Multifunktionsmessers über den leicht geöffneten Mund.

56
    Ah – es tut weh, verdammt weh. Seine Brust spannt, als würde sie aufbrechen wollen. Nie hätte er gedacht, dass sich Schmerz so anfühlt und gleichzeitig so müde macht. Die Einstiche und die Treffer kümmern ihn nicht, damit könnte er laufen bis zum letzten Herzschlag. Es ist das brennende, schneidende Gefühl, beginnend in seiner Körpermitte, das sich die linke Seite hinauf- und den linken Arm hinunterzieht und ihn nicht mehr aufstehen, nicht einmal mehr die Augen öffnen lässt. Schwer fühlt es sich an, sein Herz, und drückt nach allen Seiten, als wollte es heraus. Unmöglich, es ist einfach unmöglich: Sein Bruder hat auf ihn geschossen, mehrmals, ohne zu zögern. Sein leibhaftiger Bruder, für den er bis jetzt alles zur vollständigen Zufriedenheit erledigt hat, dem er, wo und wann es nur ging, den Rücken und den Weg freigehalten hat, dieser Bruder ist ihm nun

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