Der Metzger bricht das Eis
Auch der Metzger dreht sich um.
Mit müden, angsterfüllten Augen stehen Lisl Kalcher, Anna Kaufmann und Bernhard Axpichl im Stiegenaufgang.
Blass im Gesicht kommt Agnes Kalcher zurück ins Vorzimmer und erklärt mit bemüht gefasster Stimme: »Sie sind weg! Beide! Was soll ich jetzt machen?«
»Keine Sorgen sollst dir machen, Agnes. Die Lisl bleibt bei den Kindern, und wir brechen auf, sofort! Weit können’s noch nicht sein! Die haben wir gleich!«
Entschlossen läuft Lisl Kalcher die Treppe herunter zur Garderobe, schlüpft im Pyjama in ihren Schneeoverall und barfuß in die Bergschuhe.
»Lisl, das geht nicht, bis die Traude heroben is, dauert des z’lang, und drüben im Hotel is niemand mehr, der auf die Kinder aufpassen könnt.«
Ein ganz ungutes Gefühl nimmt den Metzger nun in Beschlag. Keine Sekunde kann er hier weiter tatenlos herumstehen.
»Doch!«, entgegnet er.
53
Zwei silberne Fahrzeuge sind es also, die in einem Höllentempo den höchsten Punkt der Forststraße anpeilen, ein Familyvan des Thuswalder-Fuhrparks und Sophie Widhalms Geländewagen.
Undenkbar wäre es gewesen, nach seiner flammenden Rede, der Äußerung seines Mitgefühls, dem kurzen Moment der Nähe und schließlich in Anbetracht dieser plötzlich schwierigen Situation Agnes Kalcher im Stich zu lassen. Zu dieser unguten Situation zählt auch das Auftauchen Laurenz Thuswalders. Und gerade weil Laurenz Thuswalder Agnes Kalcher ausreden wollte, das Angebot eines sichtlich am Berg Erfahrungslosen in Anspruch zu nehmen, hat er hartnäckig auf sein Mitkommen bestanden, der Willibald.
»Auf eigene Verantwortung, weil Kindergarten sind wir keiner!«, war die patzige Antwort.
Kurz wurde dem Metzger dann auch noch in Zimmer 202 nach Verlautbarung seines Vorhabens einhellig das vollkommene Delirium attestiert, anders könne man sich so einen Irrwitz nicht erklären, dann aber kam sie zum Tragen, die geschlechtersolidarische Einhelligkeit: Weiblicherseits, weil Danjelas Argument, die Kinder bräuchten in dieser so schwierigen Situation unbedingt liebevolle Erwachsenenbetreuung, von Sophie nichts entgegengesetzt wurde; männlicherseits, weil Toni Schuster den Halbbruder seiner Sophie unter keinen Umständen allein ausrücken lassen wollte – woraufhin ihm Sophie dann freimütig die Benützung ihres Geländewagens ans Herz legte.
»Und wo ist Waffe so wie bei ihm?«, verkündete Danjela zum Abschied, deutete auf das Lederetui an Toni Schusters Gürtel und rüstete den Metzger schließlich mit ihrem für Bindehäute gar nicht so erfrischenden Deospray auf.
So brachen sie also alle auf: Danjela und Sophie ins Kalcher-Wohnhaus, um sowohl auf Anna und Bernhard als auch aufeinander aufzupassen; Willibald Adrian Metzger, Toni Schuster, Agnes Kalcher, Lisl Kalcher, der direkt aus dem Dienstschluss unaufhaltsam dazugestoßene Kellner Franz und Laurenz Thuswalder, um Ada samt Urliopa heimzuholen.
Auf jenem kleinen Parkplatz angekommen, von dem aus es dank einer durch eine Schranke versperrten Forststraße nur noch zu Fuß weiter Richtung Bürgljoch geht, wird an jeden der Beteiligten eine entzündete Fackel ausgehändigt, einige Expeditionsteilnehmer sind zusätzlich im Besitz einer Taschenlampe, und Toni Schuster hat sogar eine Stirnlampe dabei. Sicherheitshalber werden Telefonnummern ausgetauscht und sofort eingespeichert, man weiß ja nie, dann geht es los.
Kurz nach der ersten Rechtskurve bleibt Laurenz Thuswalder stehen und erklärt gehetzt: »Verdammt, Funkgeräte! Was ist, wenn wir oben kein Netz haben, dann nutzen uns die Handys gar nichts! Ich hab zwei im Auto. Sekunde.«
Er läuft das kurze Stück zurück zum Auto, verschwindet in der Nacht und taucht wenige Minuten später wieder auf, tatsächlich mit zwei Funkgeräten in der Hand. Eines wird nach einer kurzen Einweisung und einem Test dem Metzger übergeben, das andere behält er selbst.
Dann geht es wirklich los. All das, was sich der Metzger heute dank Gondel an Kräften gespart hat, wird ihm nun unerbittlich abverlangt. Heilfroh ist er da, nicht mehr als die ihm zugeteilte Zusatzausrüstung bei sich zu tragen, denn bei dem von der dreizehnjährigen Lisl Kalcher vorgelegten Tempo fällt jedes Gramm zu viel ins Gewicht. Ein Tempo, dem sichtlich nur Laurenz Thuswalder und Agnes Kalcher folgen können, ohne dabei einen Schuldenstand auf ihren Sauerstoffkonten anzuhäufen, und das, obwohl sie zusätzlich, maximal vom Echo erwidert, lautstark nach den Vermissten rufen. Die schlimmsten
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