Der Metzger bricht das Eis
Richtungsänderung mit dem Kopf voran in den Schnee. Wohltuend für Toni Schusters Ohren ist der durch den Wald hallende Schrei. Und schon allein die Vorstellung, wie es sich anfühlen muss, mit einem Gewehr vor der Brust beispielsweise auf einen Ast zu knallen, zaubert ihm ein Schmunzeln auf die Lippen. Dem leistet auch das beängstigende Gelächter keinen Abbruch, das ihm nun hinterhergeschickt wird: »Hahaha, was für eine Show, das lob ich mir. Da scheißt wer noch in die Windeln und setzt mir so zu. Hochachtung. Fahr nur zu Papa, ich krieg dich schon noch, du Zwerg!«
Toni Schuster fühlt sich erlöst. Mit einem seligen Lächeln im Gesicht lässt er den Wald hinter sich, kehrt auf die Piste zurück, geht in die Abfahrtshocke und weiß, was zu tun ist. Es muss Alarm geschlagen werden, möglichst schnell. Und weil so früh am Tage die zum Apres-Ski gedachten Hütten noch geschlossen sind, steuert Toni Schuster die erstbeste Behausung im Tal an. Eine Behausung, in der sich um diese Uhrzeit die Hotelgäste zum Frühstücksbuffet eingefunden haben.
Mittlerweile schweigsam um den Frühstückstisch versammelt, erlebt die Jungfamilie den Höhepunkt des an sie gerichteten pädagogisch nachhaltigen Monologs. Aus mütterlichem Mund werden der selbst längst zur Mutter gewordenen Tochter vor aller Ohren im Nachhinein der Dammschnitt aufgerechnet, die aufgebissene Brustwarze, die Kreuzschmerzen, die durchwachten Nächte, das frühe Aufstehen zu Kindergarten- und Schulzeiten, da passiert das Wunder. Und das geht so:
Toni Schuster bremst abgehetzt vor den Toren des Kalcherwirts, springt aus seiner Skibindung und läuft in Richtung Eingangstür, woraufhin die Kleine im Hochstuhl Richtung Fenster deutet und die kluge Oma mit den Worten: »Papa sau, Nidolo, Nidolo!« unterbricht. Nur die Oma lässt sich eben nicht gern unterbrechen: »Nein, Mäuschen, den Nikolo kann sich der Papa jetzt nicht anschauen, der war ja erst da! Und wenn man immer genau dann plappern will, wenn Erwachsene gerade reden, dann kommt er gar nicht mehr, der liebe Nikolo!«, und auf geht sie, die Tür.
»Nidolo, Nidolo!« drückt die Kleine ihre Freude aus und ist damit die Einzige. Wie erstarrt sind die Gesichter der anderen. Von oben bis unten in Rot getunkt, steht ein hechelnder Toni Schuster in der Gaststube. Grauenerregend ist sein Anblick, seine Stimme überschlägt sich. »Polizei! Ich brauch die Polizei!«, ruft er, was der Kleinen im Hochstuhl ein quietschendes »Tatütata« entlockt und der Oma einen Brüller, der wohl den Rest des Hauses, sprich, auch Sophie Widhalm und Danjela Djurkovic, aufweckt. Dann fällt sie in Ohnmacht, was sich aufgrund der Fallrichtung auf den Oberschenkel hörbar ziemlich ungünstig und auf die Glückseligkeit aller anderen äußerst günstig auswirkt. Wortfetzen wie Schneekanone, Mörder, Schüsse verlieren an ihrem Schrecken, die später eintreffende Polizei und vor allem Rettung werden zur Rettung eines Urlaubs und längst verloren gegangenen Familienfriedens.
Was die Polizei dann allerdings am Tatort vorfindet, hat mit Frieden nichts zu tun, nur mit letzter Ruhe.
27
Knacks hat es gemacht, und es war kein Ast. Es hat schon ein Weilchen gedauert, bis er endlich dazu in der Lage war, sein Snowboard von den Füßen zu lösen, sich zwischen den Tannen hochzurappeln und Herr über seinen Lachkrampf zu werden. Einfach absurd sah es aus, wie sich sein kleiner Finger am zweiten Fingergelenk um neunzig Grad auswärts geknickt abspreizte, überhaupt zeigte der gesamte rechte Arm recht ausgefallene Bewegungen, was ihn schließlich hat vermuten lassen, er könnte es mit einer ausgerenkten Schulter zu tun haben.
Nach einigen Versuchen war der Finger dann wieder in seinem Gelenk, und nach mehrmaliger absichtlich herbeigeführter wuchtiger Kollision mit dem nächstbesten Baumstamm die Schulter zurück in der Pfanne. Jener Moment, wo sich seine Eltern zum ersten Mal über sein Defizit bewusst wurden, soll laut Angabe seines Vaters im Krabbelalter in der Küche stattgefunden haben. Klassisch eben: Mutter kocht, Sohn hinter ihr, Mutter stolpert, kochendes Nudelwasser wird selbstständig, erwischt den gesamten rechten Unterschenkel, alles rot wie die fertige Tomatensoße, Mutter fix und fertig, weint, Vater brüllt, Sohn lacht – lang dauert es nicht, und die Sorge über den ausgebliebenen Schrei ist größer als die Sorge wegen der Verbrennung. Gegen die tagelang eiternde Wunde konnte die Ärztin etwas machen, was den Rest
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