Der Metzger bricht das Eis
betraf, sah sie sich aber wie all die anderen Mediziner nach ihr außerstande, seinen Eltern zu helfen. Seinen Eltern wohlgemerkt, denn er selbst wollte ja keine Hilfe. Was der Nachteil eines fehlenden Schmerzempfindens sein soll, versteht er nämlich bis heute nicht. Ihn könnte man Kopf voran in die Schneekanone stecken, er würde maximal lachend verstummen.
So einen abwechslungsreichen Tagesbeginn wie den heutigen lässt er sich gefallen, das ist die Oberliga an Unterhaltung und kaum zu überbieten. Vor allem die Tatsache, wem es da gelungen ist, ihn auszutricksen: derselbe Laufmeter, der ihm bereits gestern erfolgreich im Edelweiß seinen Plan zunichte gemacht hat, Erich Axpichl ein letztes Mal für sich arbeiten zu lassen. Und gut hat er das gemacht, der Erich, fast ist es ein wenig schade um diesen Idioten. Andererseits wollte er es natürlich auch nicht anders, seine Aufgaben waren schon zuvor klar definiert worden und lauteten keinesfalls: Fotos analysieren, Fragen stellen und alte Emotionen aufflackern lassen.
Jedenfalls hätte so ein bisschen Dresche den Metzger samt Anhang schon zur frühzeitigen Heimreise animiert, da ist er sich sicher. Trotzdem, es war einfach zu lustig, springt da plötzlich wie ein Superheld ein gelber Knirps aus der Menge. Langweilig war diese Variante also auch nicht und höchst informativ. Nicht nur, weil er sich dank der überheblichen Flugrolle erfolgreich mit dem Bodenturner vernetzen konnte, sondern weil es eines ans Tageslicht gebracht hat: Willibald Adrian Metzger ist zusammen mit drei anderen Personen hier. Zwei kennt er schon, wobei sich Sophie Widhalm als seine Halbschwester deklariert hat, und die dritte prügelt sich für ihn und heißt Toni Schuster. Was ist hier im Gange? Was soll dieser Familienausflug?
Eines steht fest, die Truppe ist verdammt hartnäckig. Und wieder muss er lachen, einfach nur zu komisch ist es oft, dieses Leben.
Jetzt heißt es vorerst einmal, sich ein wenig im Wald verstecken, den weißen, blutbespritzten Plastikoverall ausziehen, das Gewehr zerlegen, alles im Rucksack verstauen, warten, bis die Pisten gut gefüllt sind, und gemütlich ins Tal schwingen.
28
Lisl Kalcher sitzt in der Gaststube hinter einer mit »Stammtisch« beschrifteten Holzwand und weint. Den Helm auf, die Skijacke zu, die Skihose hochgekrempelt, die Socken dampfen. Sofort nach Erhalt der sich wie ein Lauffeuer verbreitenden Nachricht ist die Dreizehnjährige wie panisch hinunter in den Ort gebrettert, in Skischuhen zur Skischule gelaufen, mit dem Lift hinauf zum bereits am Nordhang gesetzten Kurs gefahren und hat trotzdem nicht gefunden, wonach sie auf der Suche war. So gut hätte sie für ihn da sein können in dieser bitteren Stunde.
Unaufhaltsam fließen ihr die Tränen über die Wangen, da helfen all der Zuspruch ihrer Großmutter und die weiche, runzelige Hand ihres Urgroßvaters nichts, da kämpft jede Zuwendung, jede Hilfe vergeblich an gegen die innere Selbstzerfleischung dieses Mädchens und ihr Wissen: Mit dem gut gemeinten Vorsatz, ein Rennen mit Absicht zu verlieren, war sie genau dieses eine Rennen zu spät dran. Für den vierzehnjährigen Bernhard Axpichl wird die Bestzeit von nun an kein Trost mehr sein.
Jener Mensch, für den er all seine Rennen gefahren ist, um endlich einen Moment der Anerkennung zu erhaschen, jener Mensch, für den ein zweiter Platz bereits den Rang eines Verlierers darstellte, sein Trainer, sein Vater, Erich Axpichl, ist tot.
Und weil ihm väterliches Lob in jeglicher Form so lange vorenthalten wurde, bis das Geleistete nicht der kindlichen, sondern väterlichen Vorstellung von Leistung entsprach, also nie, wird er von nun an, selbst wenn er eines Tages ganz oben steht, auf welchem Podest auch immer, jederzeit ausreichend Gründe finden, die ihm bestätigen: »Ich bin nicht gut genug!«
Das ist die Hinterlassenschaft des Erich Axpichl an seinen Sohn Bernhard Axpichl, und obwohl Lisl Kalcher dieses Wissen nicht in Worte fassen kann, weiß sie es trotzdem.
Auch die Hinterlassenschaft der Schneekanone ist grausam und lässt Erich Axpichl nicht einmal mehr ansatzweise als Erich Axpichl erkennen. Keinem der anwesenden Einsatzkräfte hatte sich jemals zuvor ein derart entsetzlicher Anblick geboten. Sicher, auf der Rückseite so einer Schneekanone befindet sich ein Gitter, soll ja theoretisch auch nur vorn was raus- und nicht hinten was reinkommen. Nur, wäre die auf der Rückseite angebrachte Turbine nicht weitschichtig verwandt mit
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