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Der Metzger bricht das Eis

Der Metzger bricht das Eis

Titel: Der Metzger bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raab
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Tannen liegt seine Hoffnung. Noch einmal dreht er sich um, beängstigend nahe ist sein Meuchelmörder herangekommen. Viele Möglichkeiten, in den dichten Wald hineinzufahren, bieten sich nicht, eng sind die Abstände zwischen den Stämmen. Ohne zu zögern, nimmt Toni Schuster die erstbeste Gelegenheit wahr und weiß sofort, was zu tun ist. So ein Skistock ist eben vielseitig einsetzbar.
    Lisl Kalcher stehen die Tränen in den Augen. Hilfe suchend sieht sie den Metzger an, stellt sich dann neben ihn, umfasst den Griff und rüttelt stumm an der Toilettentür. Als Antwort mischen sich kurze Atemgeräusche zum Strömen der Spülung.
    »Soll ich über die Tür schauen?«, gibt der Metzger vorsorglich mit lauter Stimme Bescheid und startet den ersten Klimmzugversuch.
    Und wieder fließt Wasser, diesmal untermalt von einem lang gezogenen Stöhnen. Ein Stöhnen lässt auch der Willibald hören, denn wenn die Körperwaage in luftige Höhen schlägt, schlagen die luftigen Höhen zurück. Ohne Schwung wird es nicht gehen, gesteht er sich ein, geht zur gegenüberliegenden Wand, im Gesicht des Mädchens macht sich Sorge breit, dann nimmt er Tempo auf, ein Sprung, ein verkrampftes Ziehen, und seine Augen erreichen die Oberkante.
    »Entwarnung …«, meldet der Metzger, »… dein Urgroßvater. Aber ich glaub, es geht ihm nicht so gut! Nur wenn ich …«, da bricht ihm vor Anstrengung schon beinah die Stimme weg, »… die Tür aufdrücke, kann es sein, dass ich ihn verletze, die Tür geht nach innen auf!« Und damit holt ihn die Schwerkraft zu sich, keine Sekunde länger kann er sich da oben halten, der Willibald.
    Lisl Kalcher übernimmt, mühelos klettert sie empor, stemmt sich auf die andere Seite und öffnet von innen. Auf seinen Stock gestützt hockt der alte Kalcher auf dem heruntergeklappten Klodeckel, langsam, fast wie in Trance wippt sein Körper vor und zurück und betätigt bei der Rückwärtsbewegung die Spültaste. Starr ist sein Blick zu Boden gerichtet, angsterfüllt sein Gemurmel: »Sie werden uns alle holen, alle!«
    »Keine Sorge, Herr Kalcher!«, versucht der Metzger zu beruhigen, »keiner wird irgendwen holen, keiner. Die Bestzeit wird sich wer holen, am besten ihre Urenkelin, und Sie schauen zu, oder? Sozusagen als Glücksbringer?« Er meint es ja recht lieb, der Willibald, auch wenn er natürlich weiß, dass er nicht den Funken einer Ahnung hat.
    Zärtlich und respektvoll streichelt Lisl Kalcher über den Kopf ihres Urgroßvaters, kein Hauch an Ungeduld ist zu spüren. Unter der achtsamen Zuwendung seiner Urenkelin werden die Bewegungen des alten Mannes zusehends ruhiger, ausgeglichener wird sein Atem, langsam hebt er den Kopf, die Angst in seinen Augen weicht einer Müdigkeit, ein lang gezogenes Gähnen hallt durch den mit braunen Fliesen verkleideten Raum, dann greift er nach der ihm angebotenen Hand. Ruhig sieht er zu seiner Urenkelin empor, steht auf und meint:
    »Geh, lass ihn doch einmal gewinnen, den Axpichl Bernhard, den armen Buben!«
    Lisl Kalcher denkt kurz nach, lächelt, nickt und hängt sich bei ihrem Urgroßvater ein.
    Man kann ihn als Angel verwenden, man kann am Ende eine Walze montieren und die Decke ausmalen, man kann hinter einem Kasten all das hervorholen, was längst schon keiner mehr sucht, man kann sich den Buckel kratzen oder andere abkratzen lassen, ein Skistock ist ein wahrer Multifunktionsgigant. Man kann ihn auf einer Geburtstagsparty für Kinder in die Waagrechte bringen und die Kleinen darüberspringen lassen, man kann ihn auf einer Geburtstagsparty für Erwachsene in die Waagrechte bringen und die Großen unten durchtanzen lassen, man kann ihn aber einfach auch nur so in die Waagrechte bringen und schauen, was passiert.
    Beim ersten der beiden von Toni Schuster waagerecht vor zwei Tannen hinterlegten Skistöcke passiert nichts, da wählt sein Verfolger irrtümlich noch eine andere Route, beim zweiten allerdings ist das Zuschauen ein wahrer Augenschmaus.
    Das zahlt sich natürlich für das Publikum aus, wenn ein zügig dahingleitendes Snowboard unter einem äußerst widerstandsfähigen Metallstab einfädelt und dieser Metallstab mit dem linken Ende an dem einen Baumstamm und mit dem rechten Ende an dem anderen Baumstamm hängen bleibt. Jeder Fünfjährige könnte über ein derartiges Hindernis drüberhupfen und wohlbehalten auf seinen Füßen landen, einen Snowboarder, der dieses Hindernis zu spät registriert, katapultiert es allerdings ohne Chance auf jede weitere

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