Der Metzger bricht das Eis
mit dem Resultat, nun deutlich weniger zu sehen. Immer noch steht er im Niederschlag der Schneekanone, zieht die Skibrille von der Nase und traut seinen Augen nicht. Seine weiße Hose, seine weißen Handschuhe, das Zielgebiet der Beschneiungsanlage, nichts davon ist unbefleckt. Kreisförmig erstreckt es sich über den Hang, das schaurige Bild, klebrig sind die Flocken, die in seinem Gesicht und auf seinen Lippen landen, und eindeutig ist der Geschmack.
»Blut!«, geht es ihm durch den Kopf. »Es schneit Blut!«
Von der Kante seines Helms tropft es rot, dunkle Flocken legen sich auf die frisch präparierte Piste und verwandeln das Weiß zusehends in ein helles Rosa, und wenn er sich nicht täuscht, fallen vereinzelt fleischige Brocken vom Himmel. Fassungslos starrt Toni Schuster in Richtung Pistenrand. Eine Person, an sich perfekt getarnt mit weißem Overall und weißem Helm, tritt, in der rechten Hand ein längliches Gebilde, hinter der Schneekanone hervor und blickt ihm entgegen. Wie bei einem Fleischhauer oder Chirurgen, was ja im Grunde nicht selten dasselbe ist, hat die Dienstkleidung nach getaner Arbeit ein paar Farbtupfer abbekommen.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, ruft Toni Schuster hinüber, auch wenn er vom Gegenteil überzeugt ist. Dann hebt sich der rechte Arm seines Gegenübers, und noch bevor Toni Schuster zu reagieren imstande ist, zupft es ihn am Oberarm. Ein kurzer prüfender Blick bestätigt seinen Verdacht, worum es sich bei der Ursache des schneidenden Schmerzes handelt: Es war zwar kein Knall zu hören, maximal ein leises Ploppen, trotzdem, da ist sich Toni Schuster auch kreislauftechnisch ziemlich sicher, hat sich ein Geschoss in sein Fleisch verirrt. Nur mit Mühe kann er das Gleichgewicht halten. Bewusst tief sind seine Atemzüge. So gut es geht stößt er sich erneut ab und übergibt sich der Falllinie. Es ist der zersplitternde Ast einer Tanne, der ihm verdeutlicht, dass er erstens mit seiner Vermutung richtig liegt und sich zweitens so schnell wie möglich aus dem Staub machen sollte. Tief geht er in die Abfahrtshocke, dann ist sie da, die rettende Kurve. Einzig verunsichernd ist der knapp neben ihm aufstaubende Schnee. Entweder schießt gerade jemand ums Eck, oder die notwendige Reichweite wird durch Halten des erforderlichen Abstandes erzielt. Kurz dreht er sich um und sieht seine Befürchtung bestätigt: Letzteres also. Mit bestmöglicher Armfreiheit, was bei Handhabung einer beidhändig zu bedienenden Schusswaffe natürlich von Vorteil ist, hängt ihm sein Verfolger an den Fersen. Ausweichen unmöglich, zurzeit wird die Piste links und rechts von ansteigenden Hängen begrenzt. Für derartige Spielchen träfe sein Verfolger bei einem unverletzten Toni Schuster an sich ja genau auf den Richtigen. Denn in der Skala seiner liebsten Spielgefährten kommen nach Fahrradboten unmittelbar auf Platz zwei die Hämorrhoidenschleifer, die Pistenplanierer, sprich: die Snowboarder. Da geht ihm regelmäßig der Blutdruck hoch, wenn sie mit Jacken, Hosen und Hauben in Übergrößen sinnlos auf der Piste, inmitten einer Eng- oder direkt neben der Ausstiegsstelle eines Liftes herumhocken. Kein einziges Mal noch ist ihm wer unter die Augen gekommen, der mit so einem Bügelbrett halbwegs ansehnlich zurechtgekommen wäre – bis zum heutigen Tag. Denn was sich da hinter ihm nun abzeichnet, ist äußerst besorgniserregend. Gekonnt werden lang gezogene geschnittene Schwünge in Höchstgeschwindigkeit auf die Piste gezaubert, und all das, während der Oberkörper mit ganz etwas anderem beschäftigt ist, mit dem Fixieren eines Scharfschützengewehrs, dem Anvisieren eines Ziels und dem Ausradieren desselben. Dazu müsste so ein Ziel allerdings stillhalten, und genau das, erkennt Toni Schuster nun, wäre sein Fehler. Um nicht getroffen zu werden, darf er nicht länger Schuss fahren, sondern muss Kurven hinlegen, mit möglichst unkontrollierbaren Radien. Kurze Schwünge, lange Schwünge, abrupte Tempowechsel, das ist der Plan, abgesehen davon: je kürzer der Abstand, desto kleiner der Wirkungsradius eines Gewehres. So kommt er also näher, der komplett in Weiß adjustierte Geist, und tatsächlich, ein wenig zeigt der Strategiewechsel Wirkung. Unruhiger wird der Oberkörper des Snowboarders, weiter entfernt vom Ziel schlagen die Schüsse ein, breiter wird die Abfahrt, und endlich führt sie heraus aus dem Kessel. Mit Herzrasen steuert Toni Schuster auf den von Bäumen begrenzten Pistenrand zu. Hier inmitten der
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