Der Metzger bricht das Eis
alle gegraben. Mit jedem Tag sind ihre Gesichter trauriger geworden, und irgendwann hab ich verstanden: So wie die Isabella und die Mama kommt auch der Papa nicht mehr zu uns zurück.
Und dem Bernhard sein Papa kommt auch nicht mehr zurück. Warum also darf man an so einem Tag wie heute mit niemandem drüber reden? Bei Oma probiert es die Ada ja gar nicht mehr, die fängt zur Zeit sowieso immer gleich an zu heulen.
Niemals werd ich das alles vergessen, niemals, nicht wie ich Oma und Opa in der Küche weinen und Urgroßvater fluchen gehört hab, nicht wie Ada zu mir ins Bett gekrochen ist. Heute noch schläft sie bei mir, obwohl wir beide schon viel zu groß sind für eine so kleine Matratze.
Ich will das alles nie vergessen.
Und Isabella, Mama und Papa will ich auch nicht vergessen, sie werden aber immer unschärfer in meinen Erinnerungen. Letzte Nacht hab ich wieder geträumt, dass sie vor meinen Augen verschwimmen wie ein Bild aus Wasserfarben im Regen, und keine der tausend Brillen, die vor mir auf dem Boden liegen und die ich alle durchprobier, machen sie wieder scharf, keine. Die drei stehen nur da, Hand in Hand, und lösen sich auf, und ich trau mich nicht weinen, weil ich weiß, dass jede Träne in meinen Augen sie noch ein Stück undeutlicher macht. Ich hab Angst, sie könnten in meinen Gedanken genauso verloren gehen wie Urgroßvater in seinen eigenen. Ich hab richtig große Angst, und deshalb will ich, dass uns Opa und Oma möglichst viel erzählen, dass sie alte Fotos hervorkramen, dass sie immer wieder die Geschichte wiederholen, wie Mama und Papa sich kennengelernt haben, wie Mama und Papa sich zuerst über mich, zwei Jahre später über Isabella und fünf Jahre später über Ada so gefreut haben, wie Papa Ada und mich nach Mamas Tod auf Händen getragen und behütet hat, als wären wir die allergrößten Schätze auf diesem Planeten. Ich will das alles hören, wieder und wieder, so oft wie möglich, und Oma und Opa müssen es uns erzählen, vor allem an so einem Tag wie heute. Ja, sie müssen, auch wenn sie sagen, dass es ihnen jedes Mal so wehtut, wenn sie darüber sprechen.
Uns tut es eben weh, wenn sie nicht mehr darüber sprechen. Ich muss den Bernhard finden, unbedingt, ich will ihm zeigen, dass er mit mir rechnen kann, immer, dass ich ihn verstehen werde, immer, dass ich von heute an keine Rennen mehr fahren will, nie mehr. Was hat es für einen Sinn, als Erster irgendwo unten oder oben zu sein.
Manchmal wünsch ich mir, ich hätte die Erste sein dürfen, die hinten auf dem Friedhof liegt, dann hätt ich sie jetzt alle bei mir, dann hätt ich nicht dabei zusehen müssen, wie genau die vor mir gehen, die ich am liebsten hab. Urliopa hat bald den 85. Geburtstag, auch Opa und Oma sind schon alt. Irgendwann werden Ada und ich allein übrig sein, ganz allein, und was ist dann? Ist das alles im Leben, zuschauen müssen beim Sterben, immer wieder zuschauen müssen, so lange, bis man selber drankommt?
31
Schweigsam stehen sie zu zweit vor dem Grab der Familie Kalcher. Was gibt es in Anbetracht einer solchen Tragödie auch groß zu sagen. Betroffen fixiert der Metzger die Namen der drei Verstorbenen und sieht einmal mehr seine Theorie bestätigt: Diese Welt ist der absolute Gegenentwurf zu einer im Menschenhirn herangewachsenen Vorstellung von Gerechtigkeit. Wenn es so etwas wie Gerechtigkeit tatsächlich geben soll, dann ist sie kein Akt des Empfangens, maximal ein Experiment des Gebens.
»Das Schicksal kannst nicht erklären, nur ertragen!«, gibt Traude Fischlmeier schließlich von sich. Dann marschieren die beiden im Gänsemarsch zurück zum Friedhofstor, und wie das so ist, wenn die Suche nach etwas Bestimmtem abgeschlossen ist und somit die Offenheit für anderes nicht mehr beeinträchtigt, blickt der Metzger anstatt auf die Reihennummerierungen nun auf die Gräber. So sticht es ihm also ins Auge, das hinter den Kränzen im frischen Erdaushub steckende Holzkreuz der eben erst hierher übersiedelten Dauermieterin:
Aloisia Axpichl 1937–2011
»Ist das die Mutter?«, fragt er.
»Von wem?«, fragt Traude Fischlmeier mit erstauntem Blick retour.
»Von dem tragischen Mordopfer heute Vormittag, Erich Axpichl?«
»Ja, von dem auch!«, ist die überraschend emotionslose Antwort, und fast so, als spräche sie mit sich selbst, wirkt es auf den Willibald.
»Wieso auch?«
»Das war kein guter Mensch, die Axpichlerin. So wie ihr Sohn«, übergeht sie flüsternd die Frage und starrt über den
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