Der Metzger bricht das Eis
also Zeit und nimmt sein nächstes Ziel in Angriff: Reihe 27, Nummer 4.
Immerhin sonnig ist es draußen, trotzdem wird der Weg hinunter in den Ort mit eingezogenem Hals und hochgezogenen Schultern absolviert, so zieht es ihm um die Ohren. Was die neue Kopfbedeckung betrifft, ist sich der Metzger nicht so sicher, sie überhaupt schon aufgesetzt zu haben. Ein derartig weitmaschiges, bestenfalls zum Abseihen von Nudeln geeignetes Wollfadennetz, das seiner Danjela da in der Filiale ihrer bevorzugten Billigtextilkette unter dem Deckmantel Haube angedreht wurde, stülpt sich ein Einheimischer nicht einmal zwecks Dekoration über seine Häuselpapierrolle.
Nach einem durchaus leidvollen Fußmarsch öffnet er, mit Blick auf die wunderschöne spätgotische Pfarrkirche des Ortes, ein kunstvoll verziertes Eisentor und betritt den Friedhof. Fast wie das Bild einer Kleinstadt aus der Vogelperspektive sehen sie aus, die finalen Einzimmerwohnungen des Menschen. Nach der Geburt und nach dem Tod liegen wir alle gleich, Schulter an Schulter auf dem Rücken, einmal ist es die Säuglings-, einmal die Endstation. Scheinbar ungeordnet schlängelt sich, begrenzt von einer Steinmauer, eine Vielzahl von dicht beieinanderliegenden Gräbern um die Kirche, und allesamt sind sie auffällig liebevoll dekoriert. Winterharte Pflanzen aller Art vermitteln den Eindruck, als durchschreite man eine Gärtnerei, in beinah jeder Laterne brennt ein rotes Lichtlein. Idyllisch ist das sich dem Besucher bietende Bild. Ein kleiner, gepflegter Garten also umgibt ein wunderschönes spätgotisches Bauwerk, von dem jene, die annehmen, der Himmelsvater besäße einen Meldezettel, behaupten, es wäre das Haus Gottes. Links und rechts der Kirche eröffnet sich eine eindrucksvolle Gebirgswelt, die Sonne lacht vom Himmel, ein paar Rotkehlchen durchstöbern den schmelzenden Schnee, glitzernde, tropfende Eiszapfen hängen an den gusseisernen Kreuzen, ein kleines, klares Rinnsal plätschert zwischen den Gräbern dahin. Da stellt sich natürlich die Frage, ob der Herrgott in Anbetracht dieser gigantischen, grenzenlosen Schöpfung als Behausung ein enges, feuchtes, unterkühltes Mauerwerk vorzieht.
Ja, hier zu stehen, im Moment der Trauer, und über die Steinmauer hinweg die Berge zu betrachten, das kann schon deutlich mehr Trost und Kraft spenden als der Blick auf die graue Häuserzeile eines innerstädtischen Gemeindebaus – natürlich vorausgesetzt, der Berg ist nicht die Ursache des Friedhofsbesuchs.
In Anbetracht der Inschriften auf einigen Gedenktafeln steht jedenfalls fest: Was die Lebensgefahr betrifft, ist ein Gemeindebau im Vergleich zu einer Gebirgskette ein Hochsicherheitstrakt, denn hier geben sich Lawinen- und Steinschlagopfer sowie beim Bergsteigen, Tourengehen oder Sportklettern Abgestürzte ein trauriges Stelldichein.
Und laut der Reihennummerierung steht fest: Nach 3 kommt in dieser Region offenbar 19, dann 58, dann 4, dann 20, dann 36. Völlig orientierungslos und rein auf die Reihennummern konzentriert, läuft er die Gräber entlang, der Metzger, zwängt sich durch eine Engstelle samt Erdaushub und darauf gelagerten Kränzen, und weiter geht der orientierungslose Zickzackkurs.
Da kommt ihm natürlich das über jeden Altersunterschied und jede noch so unterschiedliche Herkunft erhabene »Grüaß di« sehr gelegen.
»Grüß Gott«, erwidert er den Gruß, »dürfte ich Sie kurz stören? Ich such die Reihe 27.«
»Du bist net von da, gell!«, stemmt sich die recht rüstige, etwa 80-jährige Dame nun hoch, »Die Reihe hilft uns hier im Grunde nix, musst mir den Namen sagen.«
Und weil sich da namenstechnisch im Ort jemand offenbar sehr gut auskennt, startet er nun spontan einen neuen Versuch, der Willibald:
»Schrothe, Familie Schrothe? Der Sohn heißt Karl.«
»Schrothe?«, verdattert ist ihr Blick, »nie gehört.«
»Und Kalcher?«
»Na, die kennt jeder. Hotel, Sportgeschäft, waren früher Biobauern. Des Familiengrab ist da hinten, an der Mauer, das mit dem Engel. Kannst net verfehlen.«
Dann wendet sie sich wieder dem über der Erde liegenden Reisig und dem unter der Erde liegenden Franz Fischlmeier, 1928–2011, zu.
Der Engel ist nicht zu übersehen. Kindliche, sanfte Züge prägen sein Gesicht, leicht gebeugt ist sein Kopf, die Augen sind friedlich auf die mit akribischer Sorgfalt gepflegte Grabstätte gerichtet. Die linke der beiden herabhängenden Hände hält eine Laterne, die rechte ist leicht nach außen gedreht. Irgendwie kann
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