Der Metzger bricht das Eis
sich der Metzger nicht des Eindrucks erwehren, als wäre diese offene Hand die stille Einladung an die Ruhenden, sie zu ergreifen, sich wieder zu erheben und eines Tages zurückzukehren.
Ein rotes Grablicht brennt in der Laterne, darunter steht eine kleine Steintafel mit der Grabinschrift: »Auf ewig eins.«
Dann die Namen:
Isabella Kalcher
2000–2006
Marianne Kalcher
1976–2006
Horst Kalcher
1973–2009
Erschütternd ist die Einsicht, die dem Metzger nun eine bleierne Schwere über den Körper legt. Wäre es nicht pietätlos, er würde an der Schulter des Engels Halt suchen und sich kurz auf die Steinumfassung des Grabes setzen? Nun versteht er die so lückenhafte Zusammensetzung der Familie Kalcher, das Fehlen einer Generation, den in der Gaststube so spürbaren Zusammenhalt.
»Schrecklich!«, flüstert er und erhält eine Antwort.
»Ja, das ist ganz eine schlimme Gschicht!«
Im Hintergrund ist die ältere Dame von vorhin aufgetaucht.
»Hast Kinder?«, blickt sie dem Metzger sanft in die Augen.
»Nein.«
»Dann bleibt’s dir erspart, die ewige Sorge, die ewige Verlustangst. Es gibt nix Schlimmeres für Eltern, als das eigene Kind zu verlieren. In dem Fall das eigene Kind und den eigenen Partner, und gleichzeitig verlieren zwei Mädchen die Mutter und die Schwester. Und als wärs nicht genug, verunglückt dann drei Jahre später auch noch der Vater. Das kann sich keiner vorstellen. Kinder verlieren ihre Eltern und Eltern ihre Kinder, und wenn man nur eins hat, so wie der Sepp und die Agnes den Horst hatten, dann ist es b’sonders schlimm. Da kann man schon den Glauben an den Herrgott verlieren. Schrecklich.«
Eine kurze Pause wird eingelegt, dann fortgesetzt:
»So liebe Mädchen sind’s, die Kalcher-Dirndln, und so tapfer hat sie alles z’sammengehalten, die alte Kalcherin, so tapfer. Ein wirklich guter Mensch ist das, die Agnes. Und? Du bist ein alter Freund? Musst jedenfalls ein sehr alter Freund sein, weil kennen tu ich dich nicht!«
»Gestatten, Metzger mein Name, Willibald Adrian Metzger!«
»Traude Fischlmeier. Also, bist jetzt ein alter Freund?«
»Nein, nur ein Gast beim Kalcherwirt. Hab von den schweren Verlusten der Familie erfahren und wollt ihnen halt meinen Respekt erweisen!«
»Hast also von ihrem Schicksal erfahren? Interessant! Das können jedenfalls nicht die Kalchers gewesen sein, die dir darüber erzählt haben, weil seit der Horst unter der Erd ist, reden die kein Wort mehr drüber, und ansprechen darf man sie schon gar nicht.«
»Na ja, wirklich viel erfahren hab ich nicht, das stimmt.«
»Hat dich also die Neugier hierhergetrieben, na, dann horchst jetzt gut zu.«
30
Jetzt haben sie den Papa vom Bernhard gefunden, und obwohl eh schon alles so schlimm ist, hat Opa wieder mit Ada gestritten, genauso wie früher immer mit mir. Ich hasse das. Er sagt, er hat eben keine Zeit zum Reden, das Geschäft unten ist bummvoll, blablabla, aber das sind alles nur Ausreden. Wir bekommen immer dieselbe Antwort, egal, ob er Zeit hat oder nicht. Er schaut uns an, sein Gesicht wird wie versteinert, die Augen ganz leer, und dann verbietet er Ada den Mund. Ada will und kann aber nicht aufhören, ihn immer wieder wegen Isabella, Mama und Papa anzusprechen, schon gar nicht an so einem Tag wie heute – und dafür bin ich ihr dankbar.
Isabella, Mama und Papa sind zwar tot, aber deshalb sind sie für uns noch lange nicht verschwunden. Wie soll ich denn vergessen, wie plötzlich an einem Freitagnachmittag das Telefon geläutet hat und wir erfahren haben, dass der Wagen, mit dem die Mama und die Isabella nach einer Wanderung die Serpentinen vom Bürgljochparkplatz runtergefahren sind, nach einem Reifenplatzer die Böschung runtergestürzt ist und die Mama mit dem Hubschrauber ins Spital gebracht wurde. Nur die Mama. Für die Isabella war jede Hilfe zu spät.
Trotzdem haben die Ada, der Urgroßvater und ich die Mama nie wiedergesehen, genauso wie die Isabella. Nur der Papa, die Oma und der Opa haben die Mama noch gesehen, weil sie die 53 Stunden, die Mama noch gelebt hat, fast durchgehend bei ihr auf der Intensivstation waren.
Wie soll ich vergessen, wie dann drei Jahre später im Winter der Papa oben am Bürgljoch verünglückt ist, freiwillig, sagen die Leute, aber das glaub ich nicht, weil mich der Papa ja grad gesucht hat. Der Motorschlitten ist explodiert, eine Lawine vom Bürgljoch ist abgegangen, hat alles verschüttet, der Opa, der Urgroßvater, fast das ganze Dorf, zwei Tage lang haben
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