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Der Metzger geht fremd

Der Metzger geht fremd

Titel: Der Metzger geht fremd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raab
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erste große Liebe noch für sein eigenes misshandeltes Kind, noch für meine Mutter. Was ist denn der da«, dabei deutet er zum zitternden Hans Hirzinger, »anderes als nur ein Mensch. Können Sie mir das erklären? Was hindert einen daran, sich gegen einen einzigen Menschen um des Lebens anderer willen durchzusetzen? Sagen Sie es mir? Was?«
    Lange schaut er den Metzger an, ohne mit dem Blick auszuweichen. Richtig schwer fällt es dem Willibald, sich nicht von diesen tiefen, dunklen und an sich sanften Augen beeindrucken zu lassen.
    Ruhig spricht Alexander Friedmann weiter:
    »Menschen sind die passivsten Parasiten dieser Erde, sie dulden aus Bequemlichkeit und mangelnder Courage jedes Übel und wundern sich im Nachhinein, wenn andere über sie verfügen. Die freiwillige Hilflosigkeit, das bereitwillige Abgeben der Eigenverantwortung und das tatenlose Warten auf Fremdentscheidungen rollen dem schlimmsten Tyrannen den roten Teppich aus. Wer keine eigenen Entscheidungen treffen will, den treffen die Entscheidungen der anderen. Und mein Vater war es, der selbst dann keinen Finger rühren wollte, als ein hilfloser Mensch nach dem anderen vor seinen Augen in den Ruin geführt und die eigene Familie zerstört wurde. Das ist kein geringeres Verbrechen, als seine Angehörigen zu töten, es kommt aufs Gleiche heraus. Deshalb ist mein Handeln angebracht. Zum ausgleichenden Gut in ungerechten Angelegenheiten zählt auch das Leben. Das Leben ist unser Einsatz. Ihr Tod, Herr Metzger, ist ein Schönheitsfehler. Er tut mir zwar leid, aber das kann ich verkraften, diesen Mord begehe ich für meine Mutter.
    Seit ich denken kann, will ich mich und vor allem sie aus dieser Hölle herausholen. Meine Mutter war es bisher niemandem wert, für sie zu kämpfen, am wenigsten ihrem eigenen Vater, nicht ihrem Verlobten, nicht ihrem Mann und keinem der Kinder. Ihr wurden das Herz und das Leben geraubt, wie ein Stück Dreck ist sie behandelt worden. Ich werde für sie kämpfen, und sie wird nie etwas davon erfahren!
    Wenn in Kürze dieser Hof in Flammen aufgeht, bekommen die Hirzinger-Halbschwestern gut dotiert ihr Leben zurück. Sie erben den Reichtum dieser verteufelten Gründe, die dann hoffentlich verkauft werden. Und dann, dann ist meine Mutter frei, von allem und von jedem!«
    »Nur nicht von Ihnen!«, antwortet der Metzger. »Nur nicht von Ihnen!«
    Alexander Friedmann hat sich längst erhoben. Für ihn ist das Gespräch beendet. Er nimmt eine der alten Decken, mit denen vor Kurzem noch die Essgruppe bedeckt war, umhüllt damit den Kopf seines wimmernden Großvaters und stößt ihn zur Seite.
    Dann nimmt er das neben dem Metzger liegende Jackett, stülpt es dem Restaurator ebenfalls über den Kopf, wickelt die herunterhängenden Ärmel um den Hals, verknotet sie unterhalb des Kinns und stößt den Metzger um.
    Draußen grollt der erste Donner, und um den Willibald ist es dunkel geworden.
    Undeutlich werden die Geräusche und dumpf die Stimmen: »Bist ein Braver. Na, komm schon her, komm schon her zum Herrchen!«
    Schritte sind zu hören.
    »Ja, wo bist du denn?«
    Ein Pfiff ist zu hören.
    »Dann nicht!«
    Die Schritte entfernen sich, und eine Tür fällt ins Schloss.
    Hans Hirzinger weint.
    62
    W EINEN IST DIE S PRACHE des Grenzgängers, wenn ihn der Sog auf die andere Seite gespült hat und er diesen Übertritt registriert – aus Freude, aus Schmerz oder aus Verzweiflung.
    In der Verborgenheit des Inneren rührt sich etwas auf, bis es die Grenze der Befangenheit sprengt und sich Ausdruck verleiht. Es kann Jahre dauern, bis sich ein Inneres auf diese Weise nach außen kehrt, bis die Seele das Verschwiegenheitsgelübde des Starrsinns durchbricht.
    Die Fähigkeit des Menschen, sich gegenüber der Stimme seines Herzens taub zu stellen, übertrifft die höchste feinmotorische Kunst, die herausragendste geistige Leistung, die größte Begabung. Nur um dem eigenen Herzen zu trotzen, geht der Mensch über Leichen.
    Hans Hirzinger weint. Es sind die ersten Tränen seit dem Tod seiner Mutter. Seit siebzig Jahren. Sie werden nichts fortspülen und nichts löschen.
    Sich ein Leben lang der Taubheit des Herzens hinzugeben, sich darauf zu berufen, diese Taubheit sei von höchster Stelle abgesegnet, und sich gestützt auf den Wahn dieser herzlosen Absegnung selbst jede Rohheit, jede Menschenverachtung und jede Erbarmungslosig-keit zuzugestehen, das ist ein freier Entschluss. Und auch wenn einem derartigen Entschluss im Nachhinein oftmals durch

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