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Der Metzger geht fremd

Der Metzger geht fremd

Titel: Der Metzger geht fremd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raab
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Und alles andere, als dass sich hier jemand aus freien Stücken von einem seiner Körperteile getrennt hat, will der Metzger erst gar nicht denken, nicht dass er am Ende die restliche Leiche auch noch findet. Außerdem sprechen zwei triftige Gründe für eine freiwillige Verstümmelung: Erstens führen Blutstropfen von dem Finger weg, der genauso wie dieser zuvor ausgestoßene Schrei allem Anschein nach zu einer weiblichen Person gehört, und zweitens: Was wäre das für ein unterbelichteter Mörder, der im Wald jemandem unüberhörbar den Finger abzwickt, dann tötet, den Finger liegen lässt, aber mit der Leiche quer durchs Gemüse irgendwohin verschwindet.
    Jetzt hat der Willibald natürlich vergessen, dass der Irrsinn eines Mörders wahrlich über jedes gewöhnliche Vorstellungsvermögen hinausgeht. Was sich ein Verbrecherhirn so ausmalt, dagegen ist ein Kandinsky klassische Malerei.
    Was tun, grübelt der Metzger, ich kann ja den Finger schlecht mitnehmen.
    Den Finger nicht, aber der Ring böte sich an.
    10
    A M T AG, BEVOR ES PASSIERTE, begegneten sie sich abermals am Ufer des Sees. Mit triefendem Körper kam er ihm entgegen. Aus den Haaren tropfte ihm Wasser auf die Stirn und rann durch seine Augen. Ihm fiel auf, dass er es einfach zuließ, unbekümmert, wie ein Vieh, dem die Fliegen auf der Pupille sitzen. Diesmal gab er sich zu erkennen.
    Ohne einander von der Seite zu weichen, gingen sie den See entlang zum Steg, wortlos, bis ihm sein Gegenüber die Frage stellte: »Wie lang hast du Zeit?«
    »Zeit? Zeit spielt keine Rolle!«
    Nach dieser Antwort spürte er, wie sich ein Bollwerk an Zurückhaltung aller Schutzschilder entledigte, wie sich für einen kurzen Moment lang irgendwie dankbar und unbeholfen eine Hand auf die seine legte, ganz selbstverständlich, als hätte dieses Leben, in dem keine Berührung zwischen ihnen erfolgte, nie stattgefunden. Es tat weh, körperlich, brannte bis in sein Inneres.
    »Ich bin nicht hier, um jemand Vertrautem zu begegnen!«, war seine Antwort, während er ein Stück zur Seite rückte. »Wenn, dann bin ich hier, um einen Fremden kennenzulernen.«
    »Du bist auch hier, um dich selbst kennenzulernen«, wurde ihm entgegnet.
    Die Worte trafen ihn wie ein Keulenschlag. Doch er sprach nicht weiter. Neben ihm saß ein Gefallener.
    Nur die wenigsten Gefallenen sind freiwillig auf der Strecke geblieben, er weiß das selbst am besten. Hinzufallen bedeutet aber nicht, Unschuldige mit sich in den Abgrund zu ziehen. Nein, er hat kein Mitleid mit ihm.
    Dann wurde es Zeit zu gehen. Um sich ein Schweigen anzuhören, muss er nicht neben einem Fremden sitzen: »Wenn du reden willst, du weißt jetzt, wo du mich findest!«
    Er wird nicht mehr sprechen. Und nun spricht auch sie nicht. Er war zu weit gegangen, hätte nichts sagen dürfen und sie beschützen müssen, so wie früher, als er ein Junge und sie sein kleines Mädchen war.
    Seit er ihr von ihm erzählt hat, telefonieren sie nur noch einmal täglich. Morgens. Das »Gute Nacht« war ausgefallen. Beide nahmen es unkommentiert hin. Gegenseitige Vorwürfe sind bei ihnen nicht üblich. Heute aber ist selbst der Morgenanruf ausgeblieben.
    Was passiert, wenn ich mich nicht melde?, hat er sich noch gedacht. Nichts ist passiert. Es kam kein Anruf.
    Liegt der Grund ihres Schweigens in diesem letzten Telefonat? »Es ist etwas passiert!«, hat er gesagt.
    Sie schwieg.
    »Er ist tot!«
    Nichts.
    »Bist du noch dran?«
    »Ja, ich bin noch dran.«
    Weit weg erschien sie ihm. So weit weg.
    11
    »B IST DU GEWESEN noch auf Schwammerlsuche in Wald?« Eingewickelt in ein weißes Handtuch, steht Danjela Djurkovic leicht fröstelnd vor dem Kurhotel.
    »Tut mir leid, ich bin da ein wenig vom Weg abgekommen!«, lächelt ihr der Metzger zu.
    »Solang nicht rechte Weg war! Willibald, weißt du was? Bist du noch goldiger jetzt mit Lücke in Gebiss!«
    Unbeholfen hievt sich der Restaurator von seinem Rad, die aufgeschürfte Nase brennt vom über die Stirn rinnenden Schweiß, denn richtig beeilt hat er sich, getrieben von einem unheimlichen Gefühl, als hätte der Wald versteckte Augen, als säße ihm jemand im Nacken. Abgesehen davon melden sich nun mittlerweile zwischen Nacken und Ferse Muskeln zu Wort, deren bisheriges Schweigen der Metzger ganz einfach als mögliche Folge ihres Nichtvorhandenseins fehlgedeutet hat. Gemächlich lehnt er sein Rad an einen dafür vorgesehenen Ständer und hört ein resolutes: »Kommst du, oder willst du mich gleich schicken auf

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