Der Metzger geht fremd
da nämlich eine Frage.«
Ernst: Sag, weißt du eigentlich, wie spät es ist?
Anton: Nein, diese Frage ist es nicht. Die könntest du mir auch sicher nicht beantworten, weil warum soll ausgerechnet dir in unserem künstlichen Schaukasten ohne Tageslicht mehr Zeitgefühl geblieben sein als mir. Was ich gern von dir wissen würde, ist…
Ernst: Was soll das? Den ganzen Tag nervst du mich mit deinem Geflenne, nötigst mich zu Gratistherapiestunden, schläfst dich dabei aus, und in der Nacht bist du dann auf Zack. Ich brauch meine Ruhe!
Anton: Beschäftigt dich das nicht? Da schleppen die einen saftigen Kadaver aus dem Schwimmbad an unserer Tür vorbei und werfen ihn uns nicht zum Fraß vor. Was machen die damit? Tot ist tot. Fressen die sich gegenseitig, oder ist es nur ihr Geiz? Der kümmerliche Glatzkopf mit seinen abstehenden Ohren hätte uns den Happen doch ruhig servieren können, die zwei haben sich ja ohnedies erst kürzlich direkt vor unserer Scheibe in die Haare bekommen.
Ernst: Welche Haare? Glatzert wie wir waren sie beide!
Anton: Ha, du bist also munter!
Ernst: Ja, ich bin munter, und nein, das beschäftigt mich nicht. Nachdem du mich allerdings ohnedies so lange nerven wirst, bis du deine Antwort bekommen hast, sei dir gesagt: Ich bin mir sicher, es ist ihr Geiz, und sie bringen ihren Toten mehr Respekt entgegen als den Lebenden. Sozusagen als Pseudowiedergutmachung. Wahrscheinlich packen sie so einen Kadaver auch noch in irgendwas ein, verscharren ihn unter der Erde, damit ja keiner herankommt, und erzählen dem Erdhaufen all das, was die langsam verfaulenden Überreste darunter ihr Lebtag nicht zu hören bekommen haben!
Anton: Mensch, hast du eine kranke Phantasie! Das erzählst du jetzt nur, damit ich auch nicht schlafen kann, oder? Die werden sich doch da draußen, solang sie leben, nicht gegenseitig nur was vormachen. Wie soll das gehen? Immerhin haben die auch alle ein Herz.
Ernst: Nur zum Leben, Anton, nicht zum Fühlen!
Anton: Bin ich froh, dass du schon zu Lebzeiten so aufrichtig und herzlich zu mir bist!
Ernst: Schlaf!
Anton: Du meinst wohl schlafen und schwimmen!
Ernst: In unserem Fall sogar im Kreis. Was übrigens nicht leicht ist. Und jetzt gib endlich einen Frieden!
Anton: Nicht leicht? Also ich schwimm die Runde hier im Schlaf.
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J E GRÖSSER DIE A USWAHL , desto eher greift der Mensch offensichtlich zum Gewohnten. Käse, Wurst, Schinken, Speck, Sauerrahm-, Süßrahm- oder Almbutter, Joghurts mit und ohne Beigaben, Müslis, Flocken, Körndeln, Dörrallerlei und andere demonstrative »Ichernähr-mich-gesund«-Objekte, Konfitüren mit und ohne Fruchtstückchen, Backwaren süß oder gesäuert, Aufstriche aus Topfen, Frischkäse, Leberwurst oder Soja, Obst und Gemüse bissfest oder gepresst, Eier in allen Größen und Konsistenzen und weiß die Galle, was so ein Morgenmagen noch alles verträgt – aber die meisten Gäste des Kurhotels Sonnenhof sitzen an diesem wolkenlosen Morgen vor ihrer Tasse Kaffee, ihrem Marmeladesemmerl und ihrem Butterbrot mit Toastschinken samt einer Scheibe Gouda.
Das Einzige, was der Metzger sich aussuchen konnte, war: »Wollen Sie das Ei hart oder weich?« und »Tee oder Kaffee?«, wobei den Tee mit Milch und Zucker zu mischen dem Metzger noch eine Spur abartiger erscheint, als dem Kaffee eine getrübte Entstellung zu verpassen.
Immer zuerst was trinken, hat ihm seine Mutter beim Frühstück konsequent eingetrichtert, das brauche der Magen. Und nachdem sich die Ratschläge der Ernährungsberater so schnell ändern wie die Schuhgröße eines Menschenkindes, hält er es am Morgen heute noch so, der Metzger, allerdings nicht mit Kakao, sondern meistens mit einer Tasse koffeinhaltigem Schwarzen, ab und zu einem Pfefferminztee und ganz selten einem Glas Rotwein.
Nach dem ersten Schlückchen beißt er genüsslich in die Semmel mit herrlicher selbst gemachter Hackenberger-Marillenmarmelade, bringt, ohne zuvor geschluckt zu haben, die notwendige Wenigkeit Kaffee in die Mundhöhle und zermanscht das so entstandene Schlamassel zu einem bekömmlichen Brei. Ganz schlecht ist es, in diesem Moment angesprochen zu werden.
»Wunderschönen guten Morgen, Herr Metzger!« Herr Friedmann betritt den gemütlichen und engen Frühstücksraum, in dem Willibald Adrian Metzger zu dieser frühen Stunde noch allein sitzt, und nimmt am Tisch nebenan Platz.
»Ein wunderschöner Morgen ist das, nicht?«, wiederholt Frau Hackenberger lautstark aus der Küche, wobei sie mit
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