Der Metzger geht fremd
ihrer ebenerdigen, rückseitig gelegenen Kammer in den düsteren Wald satt und wolle nur mehr eines: Zimmer mit Seeblick. Abermals habe man ihr heute am Empfang die unbefriedigende Auskunft erteilt: »Leider sind alle vorderen Zimmer belegt«, worauf sie diesen saublöden Rezeptionstussis, so Frau Eisler wörtlich, lautstark erklärt habe, wenn sie schon den Terminus »belegt« benutzten, müsse es richtigerweise heißen: »Eigentlich sind alle Zimmer belegt!«
»Eigentlich«, weil im Fall des wunderbaren Zimmers 3.12 und seines ehemaligen Bewohners August-David Friedmann dieses »belegt« nur im metaphysischen Sinn stimmen könne: Liegen als finale Stellung des Menschen. Folglich sehe sie trotz der großen Tragik absolut nicht ein, warum dieser Raum nicht bezogen werden könne! Herr Friedmann liege erstens nicht mehr dort und komme zweitens höchstwahrscheinlich auch nicht mehr dorthin zurück.
Das habe gesessen. Höflich sei ihr versichert worden, dass heute Nachmittag Herrn Friedmanns Sohn das Zimmer räumen werde und sie es morgen im Lauf des Tages beziehen könne. Und jetzt, erzählte sie euphorisch der erstaunten Danjela, sei sie aus lauter Neugierde hier, um vorab, vom direkt an das Zimmer 3.12 angrenzenden Gemeinschaftsbalkon, ihre zukünftige Aussicht zu genießen.
»Dann lassen Sie sich nix stören!«, war die kurze Djurkovic-Antwort.
In Wahrheit wollte sich natürlich die Danjela selbst nicht stören lassen, immerhin gab es mit dieser Ladung an Information im Djurkovic-Hirn einige durchaus schaurige und zugleich interessante Schlussfolgerungen zu verarbeiten:
• August-David Friedmann war, getrennt durch den
Gemeinschaftsbalkon, indirekt ihr Zimmernachbar
gewesen.
• Dass das heute Nachmittag geräumte Friedmann-Zimmer erst morgen bezogen werden kann, liegt aller Wahrscheinlichkeit nach an den Dienstzeiten des Reinigungspersonals. Was bis fünfzehn Uhr nicht geputzt werden kann, bleibt ein Saustall bis zum nächsten Tag.
• Wenn man folglich morgen sehr zeitig das Zimmer
3.12 besucht, könnte es ein bisserl was zu sehen geben.
Das hat der Djurkovic an Argumenten gereicht, um ihren Wecker auf vier Uhr dreißig zu stellen. Es hat ihr ebenfalls gereicht, um die Umkletterung einer jener Holztrennwände in Angriff zu nehmen, die auf jedem Stockwerk innerhalb der protzigen Balkonfront separate Nischen erzeugen. Dazu musste sie mit ihrem wuchtigen Körper die Balustrade des Gemeinschaftsbalkons überwinden, auf der schmalen Bodenkante Halt finden und, sich von außen am Geländer festklammernd, wie ein Zaungast spitzentänzelnd zur Balkonseite des Zimmers Nummer 3.12 hinüberbewegen. Und das alles, während sich ihr Hinterteil, weit über den Abgrund ragend, von den Verlockungen der Schwerkraft angezogen fühlte.
Und jetzt ist sie hier, im Zimmer 3.12.
Ein überraschendes Bild eröffnet sich da. Denn obwohl das Zimmer noch nicht geputzt wurde, herrscht eine erstaunliche Ordnung. Schleichend durchwandert die Djurkovic die Räume. Das Bett gemacht, leere Kästen und Laden, die Handtücher aufgehängt, Klodeckel geschlossen, kein Krümel oder Papierl am Boden. Der Vater ein Pedant, der Sohn ein Pedant. Nicht einmal ein Solosocken wurde vergessen, alle Friedmann-Privatgegenstände sind dem Junior in die Hände gefallen. Und alle Friedmann-Privatgegenstände, die der Senior die letzten Stunden seines Lebens nicht mehr zu seinen Privatgegenständen zählen wollte, die sind gewiss dorthin gefallen, wo der Junior ganz im Gegensatz zur Danjela aller Wahrscheinlichkeit nach seine Hände nicht hineinsteckt: in den Mistkübel.
Der Wohnzimmerabfall von August-David Friedmann präsentiert sich im geflochtenen Rattankübel erwartungsgemäß in hygienischer Aufgeräumtheit, und einmal mehr sieht die Djurkovic ihre auf reichlicher Erfahrung basierende Theorie eindrucksvoll bestätigt: Zeig mir deinen Mistkübel, und ich sage dir, wer du bist!
Im Friedmann-Fall:
• Papier, nicht zerknüllt, sondern gleichmäßig zerrissen, und zwar in beinah gleich große Rechtecke; egal, ob die Tageszeitung, das Tagesprogramm, die Tagesmenükarte oder andere Durchläufer;
• Speisereste, offenbar der Kern eines Pfirsichs und die Schale einer Banane, in ein Taschentuch eingewickelt;
• ein löchriger schwarzer Socken, innig verschlungen mit seinem lückenlos treuen Partner;
• der Plastikbehälter eines Fruchtjoghurts, ausgewaschen; darin gefaltet die vollständig vom Becher abgelöste Aluabdeckung;
• eine bis zum letzten
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