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Der Metzger geht fremd

Der Metzger geht fremd

Titel: Der Metzger geht fremd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raab
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Abendessen!«
    Sie weiß etwas, das wusste er schon vorher. Jetzt allerdings ist er sich absolut sicher: Sie weiß auch etwas über ihn.
    »Okay, ich melde mich dann!«
    Angespannt tritt er zurück auf den Gang, geht durchs
    menschenleere Foyer an der großen Schwingtür vorbei, draußen bleibt ein Auto stehen, die Rezeptionistin Sandra schenkt ihm wie immer ihr eindeutig zweideutiges Lächeln, dann schwenkt er in Richtung des von den Gästen bewohnten Gebäudetrakts. Weit hat er den Empfangsbereich noch nicht hinter sich gelassen, da durchschneidet ein Schrei die Nachmittagsruhe. Es ist mehr ein Ruf als ein Schrei, von Zorn erfüllt. Wie angewurzelt bleibt er stehen. Dann wird der Ruf wiederholt, und es besteht kein Zweifel mehr: Es geht ihn an. Seit vielen Jahren ist er nicht mehr so gerufen worden. Die Stimme ist ihm fremd:
    »Xaver! Xaver-Jakob Friedmann!«
    Weitere Stimmen sind zu hören, aufgeregt und hektisch.
    Langsam dreht er sich um.
    Neben der Rezeption steht ein verstörter junger Mann Mitte zwanzig. Heruntergekommen sieht er aus, ungepflegt, mit tief in der Stirn sitzendem Hut und weit geöffnetem Hemd. Seine Hose ist verdreckt, und trotz der Hitze trägt er Gummistiefel.
    Abermals brüllt er, dabei streckt sich sein Körper mit erhobenem Kopf zum Himmel, als wollte er die Geister beschwören. Der Hass und die Verzweiflung stehen ihm ins Gesicht geschrieben, eine Hand ist zur Faust geballt, die andere steckt in der Hosentasche.
    »Xaver-Jakob Friedmann! Jakob Förster, du Vatermörder. Zeig dich!«
    »Lassen Sie das bitte, jeder versteht Ihren Schmerz. Aber Sie können hier nicht so herumbrüllen. Ich muss sonst wirklich die Polizei rufen!«
    Sandra an der Rezeption scheint den jungen Mann zu kennen. Bemüht freundlich versucht sie die Situation zu beruhigen.
    Er hat keine Wahl. Bestimmt tritt er in die Mitte der Eingangshalle.
    »Ich bin hier, und ich bin kein Vatermörder! Und wer und was sind Sie, außer nicht ganz bei Trost? Hier so eine Szene zu veranstalten!«
    Langsam senkt sich der zum Himmel gerichtete Blick.
    Wie sehr das »nicht ganz bei Trost« zutrifft, wird nun für alle ersichtlich. Dem jungen Mann stehen die Tränen im Gesicht, dann setzt eine plötzlich leise und deshalb umso bedrohlicher wirkende Stimme ein: »Wer ich bin, willst du wissen? Dein Bruder bin ich. Dein Bruder Benedikt. Weißt du noch? Kannst du dich überhaupt noch erinnern? Fünf Jahre war ich alt, wie du davon bist, uns alle im Stich lassen hast. Glaubst du, es ist dadurch leichter geworden, glaubst du das, du elender Teufel? Und was glaubst du, wie es jetzt mit uns weitergeht? Warum hast du ihn nicht einfach wieder nach Hause lassen, unseren Vater. Warum?«
    »Benedikt? Du bist Benedikt! Meine Güte, Benni!« Wie eine Fontäne sprühen ihm die Erinnerungen ins Gedächtnis, werden mit einem Schlag lebendig und stoßen durch die Schutzhülle des Verdrängens. Ebenfalls mit glasigen Augen erwidert er: »Der kleine Benni, der immer in der Nacht zu mir ins Bett gekrochen ist! Ich fass es nicht. Glaubst du wirklich, ich hab unseren Vater umgebracht? Glaubst du das wirklich, nach zwanzig Jahren? Nur weil er zufällig hier als Kurgast aufgetaucht ist?«
    »Den kleinen Benni hast du vor zwanzig Jahren sitzen lassen, und mit dem großen Benedikt wirst du jetzt keine Freud haben, das garantier ich dir. Und dass du unsern Vater auf dem Gewissen hast, ja, das glaub ich, hundertprozentig! Wenn ich nämlich alles glaub, dann eines nicht: Dass unser Vater beim Schwimmen ertrunken ist. Niemals!«
    Benedikt Friedmann setzt den ersten Schritt in seine Richtung.
    »Du täuschst dich. Warum sollte ich so etwas tun, warum?«
    »Rache. Aus Rache!«
    »Was wäre das für ein hasserfülltes Leben, wenn ich für etwas, das seit zwanzig Jahren vorbei ist, noch Rache üben müsste.«
    Immer näher kommt sein Bruder auf ihn zu. Mit langsamen Bewegungen. Er wirkt sehr gefasst, die Verbitterung steht ihm noch ins Gesicht geschrieben, doch zu der Verzweiflung hat sich Entschlossenheit gemischt. Tatenlos sehen ihnen die mittlerweile wenigen anwesenden Kurgäste zu.
    »Lüg mir nicht ins Gesicht, du elender Bastard. Du kannst nicht mein Bruder sein, Großvater hat recht, wenn er sagt, vergiss den Bastard, der gehört nicht zu uns.« Seine Stimme ist wieder deutlich lauter geworden: »Zuerst läufst du davon, und dann nimmst du mir den Vater weg, du kannst nicht mein Bruder sein, niemals, und jetzt…« –mittlerweile steht Benedikt Friedmann direkt

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