Der Metzger geht fremd
Esszimmerguppe, studiert ihre Machart und jedes Detail. Die Zeit eilt dahin. Kurz vor Mittag erfolgen noch einige Arbeitsschritte am längst fälligen Gründerzeit-Schreibtisch, dann geht es in die wohlverdiente Pause.
Beim Verlassen der Werkstatt zwecks mittäglicher Nahrungszufuhr weiß er noch nichts von seinem bevorstehenden Einkehrschwung, der Metzger. Aber bereits nach der ersten Kurve am Weg zur Fleischerei taucht neben der bildlichen Vorstellung des Käs-Leberkäs-Semmerls mit Essiggurkerl ein weiterer Gedanke auf. Nur zehn Minuten ist er entfernt, jener Ort, an dem wohl keiner freiwillig am Mittagstisch teilnimmt: das dem Willibald seit Danjelas dortigem Aufenthalt bestens vertraute Unfallkrankenhaus.
So schließen sich die Kreise. Danjela Djurkovic wurde in diesem Spital speziell betreut, von den einen besten Händen in die nächsten weitergereicht und schließlich in Prof. Dr. Winfried Bertholds Sonnenhof überwiesen. Für Normalsterbliche ein Weg der Unmöglichkeit, bei entsprechenden Kontakten ein Spaziergang. Logisch, dass so etwas dann auch in die Gegenrichtung funktioniert. Wer also Professor Berthold seinen Duzfreund nennt, landet speziell betreut im Unfallkrankenhaus. Jakob Förster, eigentlich Xaver-Jakob Friedmann, befindet sich im vierten Stock – und Willibald Adrian Metzger vor dem Haupteingang. Zu sehr beschäftigt ihn diese Geschichte, als dass er gegen die unvermutet aufgetauchte innere Richtungsangabe Einspruch erhoben hätte. Was ist dabei! Ein belangloser Besuch, ein flüchtiger Blick, vielleicht ein kurzes Wort. Bisher wurde er in dieser Angelegenheit ohnedies nur ungefragt vom Schicksal herumgeschubst, von einer schrecklichen Offenbarung zur nächsten.
Vom Portier der Krankenanstalt erhält er die Zimmernummer, von der Blumenhändlerin daneben die weiße Lilie, »Steht für die Hoffnung«, ruft sie ihm nach, und vom Lift den Transportservice in den vierten Stock.
Seit seinem Besuch am Hirzinger-Hof fühlt er sich auf eine sonderbare Weise verwoben mit der Friedmann-Geschichte, bestimmt von dem Wunsch, Ordnung in diesen Stammbaum aus Verschollenen, Verstorbenen und Verstoßenen zu bringen.
Jakob Förster muss viel zu erzählen haben. Wahrscheinlich ebenso viel, wie es umgekehrt ihm von seiner eigenen Familie zu erzählen gäbe.
Und in der Tat ist der Metzger nicht der einzige Besucher hier.
Wie verschmolzen mit einem der zahlreich am Gang herumstehenden Sessel sitzt Luise Friedmann vor der Tür zum Zimmer ihres Sohnes.
Dem braunen Sitzbezug gleich ist die Farbe ihres Kleides. Und dort, wo auch die Lehne ihr Ende hat, ragt aus dem Schultergürtel, ganz dem Ton der Wandfarbe angepasst, ein bleicher Hals mit einem ebensolchen Gesicht.
Wie hypnotisiert starrt Luise Friedmann ins Leere.
Vorsichtig nimmt Willibald Adrian Metzger neben ihr Platz, schweigt ein Zeitchen, und als selbst diese Stille seiner Sitznachbarin kein Wort entlockt, meint er zögernd: »Frau Friedmann?«
Langsam, ohne Augenkontakt herzustellen, wendet sich ihr Kopf in seine Richtung.
»Frau Friedmann, ich hoffe, ich störe nicht. Ich – ich wollte nur kurz Ihren Sohn besuchen!«
»Meinen Sohn?«
Ein Blick der Verzweiflung trifft ihn, einer, der Schutz suchend um Vergebung bittet, der endlich zur Ruhe kommen will, ohne dabei Mitleid einzufordern. So zerbrechlich und zerbrochen wirkt diese Frau, so unendlich müde.
Betroffen von diesem Anblick, beginnt der Metzger mit äußerst vorsichtigem, liebevollem Unterton: »Es tut mir sehr leid, was da nach all den schrecklichen Ereignissen der letzten Tage passiert ist. Geht es Ihrem Sohn schon besser?«
»Meinem Sohn?«, entgegnet ihm erneut die kaum vernehmbare Stimme. Es ist eine Frage, so als wüsste sie nicht, von wem die Rede ist. »Ich weiß nicht!«, setzt sie fort.
Der Metzger zögert: »Ach so, Sie waren noch gar nicht drinnen! Da stör ich ja jetzt wirklich. Das ist mir natürlieh sehr unangenehm, Frau Friedmann. Am besten ist wohl, ich gehe wieder. Es geht ja wirklich nur um ihn und um Sie!«
»Um ihn und um mich? Wie, wie meinen Sie das?«
Verwunderung hat sich nun in ihr Gesicht gemischt. Und weil der Metzger mit dieser seltsamen Frage so wenig anfangen kann, kann auch er sein Erstaunen nicht verbergen.
»Nach so vielen Jahren haben Sie sicher einiges zu besprechen.«
»Woher wissen Sie?« Groß sind ihre Augen geworden, suchend.
»Dass er seit zwanzig Jahren weg ist, meinen Sie? Von Sascha weiß ich das. Außerdem war ich selbst auf Besuch
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