Der Metzger geht fremd
in der Kuranstalt und hab natürlich die ganze Tragödie mit Ihrem Mann und Ihren Söhnen mitbekommen. Ich werd mich jetzt aber wieder aus dem Staub machen. Bitte, Frau Friedmann, lassen Sie sich von mir nicht stören und gehen Sie hinein.«
»Hinein? Ich kann nicht!«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich kann nicht zu ihm.«
Nach einem tiefen Atemzug, so als müsste sie für den folgenden Satz in die Welt unter den Meeresspiegel ihres bleiernen Wesens abtauchen, setzt sie fort: »Es liegt so viel zwischen uns, so viel Zeit, so viel Ungesagtes!«
Wie eine Welle aus dem Nichts schwappt diese Offenheit über dem Metzger zusammen und verdeutlicht ihm, von welcher Einsamkeit und Willenslähmung diese Frau erfüllt sein muss. Eine Mutter, die nach so vielen Jahren der Trennung mit einem Zögern vor der Tür zu ihrem verlorenen Sohn sitzt, hat wohl auch sich selbst verloren.
Ein ungutes Gefühl drückt sich beim Metzger aus der Magengrube empor. Er weiß zwar nicht, woher der Wind weht, der Willibald, aber eines spürt er deutlich: Über der ganzen Hirzinger-Friedmann-Angelegenheit hat sich eine eisige Kaltfront breitgemacht.
Kurz zögert er, dann legt er sein Inneres offen, ohne zu wissen, was dadurch ausgelöst wird. Zu beklemmend ist die Situation, und irgendwie scheint es ihm, als sei in Gegenwart dieser gebrochenen Frau Ehrlichkeit der einzig gangbare Weg: »Sie können nicht zu ihm, Frau Friedmann? Verzeihen Sie meine Direktheit, aber Sie können, ganz gewiss. Meiner bescheidenen Meinung nach ist das nämlich kein schlechtes Angebot, das Ihnen das Leben da macht. Wenn man mit so einer Wucht aneinander-geworfen wird, nach so langer Zeit, was bleibt einem da noch anderes übrig, als sich von dem ›Ich kann nicht‹ zu verabschieden. Jetzt geht es doch in Wahrheit nur mehr um die Frage: Wollen Sie, oder wollen Sie nicht? Und dass Sie wollen, ist offensichtlich, sonst wären Sie ja gar nicht hier, trotz Ihres deutlich angeschlagenen Zustands. Sie sollten sich wirklich schonen, Frau Friedmann. Und da gibt es, denk ich, nur einen Weg. Also, fassen Sie sich ein Herz, gehen Sie dahinein, was soll passieren, und lassen Sie nichts ungesagt!«
Und all die Fragen, die dem Metzger selbst auf der Zunge brennen, brechen nun aus ihm heraus: »Erzählen Sie ihm einfach alles, auch wenn das bestimmt nicht einfach ist. Erzählen Sie ihm, warum so viele Jahre vergehen konnten, das wird auch Ihnen guttun, erzählen Sie ihm, warum auch Clara weg ist.«
Fassungslos hebt Luise Friedmann nun den Kopf, während der Metzger unbeirrt fortfährt: »Erzählen Sie ihm, wie sehr es Sie all die Zeit belastet hat, erzählen Sie, wie das heute noch ist, das Leben am Hof, zusammen mit Ihrem Vater und Ihren beiden Söhnen, erzählen Sie ihm von sich und Ihrem Mann August-David, erzählen Sie von Paula, Ihrer Schwester, nehmen Sie Ihr Leben in die Hand und gehen Sie dahinein!«
Der Metzger ist außer Atem gekommen, und während er nun aufsteht, drückt sich auch Luise Friedmann aus ihrem Sessel hoch, mit Bestürzung im Gesicht.
Fest umfasst sie sein Handgelenk und flüstert: »Sie können das nicht wissen, Sie können das alles einfach nicht wissen. Ich versteh das nicht!«
Ruhig löst er ihre Hand und hält sie fest.
Ihre Augen sind glasig. »Sagen Sie mir, woher, bitte sagen Sie mir, woher, Sie können das alles doch unmöglich wissen! Sie …« Dann beginnt sie still zu weinen.
»Was da alles im Dunkeln liegt, das weiß ich auch nicht, Frau Friedmann. Ich weiß nur, dass Ihnen in Ihrem Leben, und natürlich dem Menschen hinter dieser Tür, ganz gewiss ein bisschen Helligkeit zusteht. Haben Sie also keine Angst. Gehen Sie zu ihm und lassen Sie das Licht herein!«
Dann geht er, der Metzger, wie betäubt. Jetzt hat er sie hautnah gespürt, die Kaltfront, die dunklen Wolken, und gleichzeitig die Sehnsucht nach dem erlösenden Niederschlag.
Irgendetwas ist gerade geschehen, hat gerade begonnen – nicht nur für Luise Friedmann.
Auf seinem Schalensitz liegt die weiße Lilie.
53
G ESTERN WAR SEIN B RUDER HIER .
Es war eine Begegnung ohne viel Worte. Es ist auch schwer, hei all dem, was es nach so langer Zeit zu sagen gibt, den Anfang zu finden. Sascha hat ihn weder gefragt, ob dieser Vorwurf, der ihn beinah das Leben gekostet hätte, tatsächlich stimmt, noch, wie es ihm nach all den Jahren bei seinem Wiedersehen mit Vater ergangen ist. Er hat gar nichts gefragt, ist nur dagesessen.
Um das Schweigen ein wenig zu brechen, hat er
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