Der Metzger kommt ins Paradies: Kriminalroman (German Edition)
ließen, so leise, als schwebe er dahin, er wollte seine Augen nicht mehr schließen müssen, erfüllt voll Staunen, voll Glückseligkeit. Und doch schlief er ein.
Sie mussten ihn hinaufgetragen haben, aus dem Wagen in dieses Haus, denn er wurde erst wieder in einem Zimmer wach. Die Fenster gaben den Blick frei auf die Dächer einer Stadt, deren Namen er nicht kannte.
»Wo bin ich?«, wollte er wissen.
»In Sicherheit und daheim. Hier wohne ich, und hier wohnst du die nächste Zeit«, wurde ihm erklärt. Er traute seinen Augen nicht, noch schöner als in den Raststationen war es hier, strahlend weiße Wände, mehrheitlich weiße Möbel, Räume, so viele an der Zahl, ganze Sippschaften hätten in seiner Heimat damit das Auslangen. All das bewohnen hier nur zwei Menschen. Gustav Eichner und Angela.
Seit gestern ist Gustav nicht mehr zu Hause gewesen. Rudi hat er seit der Fahrt nicht mehr gesehen.
Sicher, die von Angela aufgelegten Eisbeutel nehmen zwar die Schwellung, den Schmerz aber nehmen sie nicht. Ohne Krücken käme er kaum von der Stelle, trotzdem: So unerträglich sein körperlicher Zustand zurzeit sein mag, er ist einfach nur dankbar und glücklich. Auch über die Abwesenheit Gustav Eichners.
Es erfüllt ihn mit ungeheurer Wärme, mit immer stärker werdenden lüsternen Gedanken, allein mit Angela und Darya hier in dieser Wohnung zu sein. Irgendwie kommt es ihm vor, als ließe Angela ihre Brüste, wenn sie in seiner alleinigen Gegenwart Darya stillt, eine Spur länger als nötig unbedeckt. Heute sitzt sie dabei zum ersten Mal nicht in dem Sessel gegenüber, sondern auf dem Sofa neben ihm.
»Wir werden uns heute um dich kümmern, Noah, okay?«, erklärt sie zärtlich und legt mit immer noch entblößter Brust ihre Hand auf sein verletztes Bein.
»Okay«, flüstert er und kann die Hitze in seinem Körper, das Auflodern seiner Leidenschaft kaum zügeln.
Kurz nähert sie sich, eine seltsame Eindringlichkeit ist in ihrem Blick, dann steht sie auf, streicht ihm wortlos übers Haar und verschwindet mit Darya im Schlafzimmer. Wenn er könnte, würde er seine Hände nach ihr ausstrecken, würde er sie zu sich ziehen. Doch zu groß ist seine Dankbarkeit Gustav gegenüber, nur seinetwegen sind sie hier.
»Wir fahren dann los«, hört er ihre Stimme und bemerkt erst später, dass die Worte nicht für ihn gedacht, sondern ins Telefon gerichtet waren.
Sushi und Shar-Pei
Vorschläge, wie sich der Weg zur inneren Einkehr einschlagen ließe, gibt es regalweise, von Zen bis Tai-Chi, von Angeln gehen bis Wintersocken stricken, von Rosenkranz beten bis sich geschminkt und verkleidet regungslos in eine Fußgängerzone stellen … Ende nie.
Verlangt es den Metzger danach, findet er sich in der Fahrerzelle des von Petar Wollnar gelenkten Pritschenwagens ein. Für Petar Wollnar nämlich sind die vorgegebenen Geschwindigkeitsbegrenzungen keine Beschränkungszeichen im herkömmlichen Sinn, sondern in steinerne Tafeln gemeißelte Gebote. Eine Fünfzigerzone bedeutet also nicht auf jeden Fall sechzig, weil der Tacho ja ohnedies immer um zehn Stundenkilometer zu viel anzeigt, sondern eine Höchstgeschwindigkeit gemäß der Anzeige, sprich fünfzig, also maximal vierzig. Und weil, laut Petar Wollnar, Höchstgeschwindigkeiten nur im Extremfall ausgereizt werden und der gute, umsichtige Fahrer immer noch eine Beschleunigungsreserve in petto haben sollte, erreicht er niemals die Obergrenzen der Legalität.
Er hat also genug Zeit, in sich zu gehen, der Metzger.
Und während des Abladens auf der Mülldeponie hat er dann genug Zeit, noch einmal seine unterdrückte Wut über die Werkstattverwüstung in sich zu orten und sein Vorhaben zu festigen, und während der Fahrt zurück hat er dann genug Zeit, Petar Wollnar die neuen Zielkoordinaten bekanntzugeben, und während der Fahrt zur vorgelesenen Praxisanschrift des Primarius Dr. Helmut Lorenz hat er dann genug Zeit, Petar Wollnar eine möglicherweise etwas länger auf ihn zukommende Wartezeit schmackhaft zu machen. Dies geschieht durch einen kurzen Zwischenhalt bei einem der rar gewordenen Fleischhauer dieser Stadt.
Kurze Zeit später hocken zwei zufriedene Männer, ausgestattet mit Schnitzel-, Fleischlaiberl- und flüssigen Semmeln, sprich Bier, beinah hochstandartig auf der erhöhten Sitzposition des sein stolzes Alter nicht verbergenden Pritschenwagens und blicken aus einiger Entfernung auf den Eingang eines der vielen hier nach Generalsanierung schreienden Wohnhäuser.
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