Der Metzger kommt ins Paradies: Kriminalroman (German Edition)
Weder die Gegend der Stadt noch das Gebäude sprechen optisch auf Anhieb dafür, sich von Dr. Helmut Lorenz auch nur den Blinddarm entfernen zu lassen – was natürlich einzig dem gesellschaftlich anerkannten Rück- und zumeist Trugschluss von einer funkelnden Praxis auf eine ruhige Hand zu verdanken ist.
Mit Letzterer genehmigen sich die beiden Herren nun ihre Fleischlaiberl-Semmeln, denn Grund zur Sorge, der geparkte schäbige kleine Wollnar-Laster könnte in dieser Umfeld irgendjemand als verdächtiges Objekt ins Auge stechen, besteht nicht. Auch als rege kann der stattfindende Durchzugsverkehr hier nicht bezeichnet werden. Maximal alle zwei Minuten fährt ein Wagen vorbei, Menschen parken ein, Menschen steigen aus, Menschen verschwinden in den Häusern. Die Arbeit des Tages scheint getan. Anders vielleicht beim aktuell vorbeirauschenden dunkelblauen Volvo Kombi, denn eingeparkt wird, ausgestiegen nicht. Aufmerksam unterbricht der Metzger sein Abendmahl. Es ist fünf Minuten vor 18 Uhr, langsam tut sich was.
Keine drei Minuten später der nächste Wagen: Ein protziger, schwarzer Audi A7 mit getönten Scheiben fährt vor, bleibt in zweiter Spur stehen, und es ereignet sich Erstaunliches.
Anfangs erfüllt es ihn ja direkt mit einer spitzbübischen Freude, den Metzger, wie er tatsächlich Angela Sahlbruckner in ihrer so eigenen Mischung aus Schönheit und Schwermut aussteigen und die Babyschale mitsamt der kleinen Darya aus dem Wagen nehmen sieht. Das selbständige Öffnen der Hintertür, das Aufsetzen zweier Krücken auf den Asphalt und das Herausmühen Noahs aber entlockt ihm ein verwundertes: »Die, die, die haben den gesuchten Jungen dabei!«, verbunden mit einem zaghaften Hinunterkurbeln des Seitenfensters – fünf Zentimeter bringt sein Mut zustande, das reicht auch, um lauschen zu können.
Und weil er ja ein guter Mensch ist, der Metzger, denkt er anfangs nichts Schlechtes, denkt ein hoffnungsfrohes: »Vielleicht ist Dr. Lorenz ja nicht nur ein Chirurg, sondern auch ein hervorragender Orthopäde, skalpelltechnisch also fast ein Allgemeinmediziner!«, verlautbart gegenüber seinem Sitznachbarn Petar Wollnar: »Die haben den Jungen wahrscheinlich mitgenommen, damit ihm Lorenz sein Knie repariert!«, und erhält anfangs die Bestätigung seiner Theorie: Angela geht auf Noah zu, streicht ihm liebevoll über die Wangen und erklärt: »Stay, Noah, stay. I look for the doctor, then we go to the hospital.«
Noah sinkt auf die lederne Rückbank der Limousine, Angela verschwindet durch ein offenes Tor im Innenhof des Hauses. Fast zeitgleich öffnet sich die Tür des vor kurzem eingeparkten Wagens, und der Metzger erstarrt, presst sich kerzengerade an die Rücklehne, packt Petar Wollnar vielsagend an der Schulter und rutscht ein deutliches Stück abwärts.
»Runter!«, flüstert er.
So starren knapp oberhalb der Fensterunterkante zwei Augenpaare gespannt hinaus auf die Straße und sehen einen großgewachsenen Mann mit schlechter Haltung und energischem Schritt auf den mit Noah besetzten Audi A7 zumarschieren: Gustav Eichner.
Unübersehbar ist das aus seiner Hand herausragende Elektroschockgerät. Er steigt ein, kurz sprühen hinter den getönten Scheiben die Funken, dann rast er davon.
»Um Gottes willen, was war das jetzt?«, gewinnt der Metzger nun fassungslos wieder an Sitzhöhe.
Kurz erörtert er die Frage, ob er Angela hinterherlaufen, ihr Bescheid geben soll, entscheidet sich aber für Petar Wollnars Einwand: »Glaub ich, warten ist besser!« So ein zuerst in zweiter Spur geparkter und dann von einem mit Elektroschocker bewaffneten, bereits lauernden Gustav Eichner in Besitz genommener Wagen sieht eben mehr nach Übernahme als nach Diebstahl aus.
Die Reaktion der zurückkehrenden Angela Sahlbruckner wird jedenfalls Aufschluss geben. Und sie lässt nicht lange auf sich warten. Begleitet von einem großen, aparten Mann Mitte fünfzig in weißer Hose, weißem Poloshirt, weißen Sportschuhen, mit schwarzer Ledertasche, wahrscheinlich Dr. Helmut Lorenz, kommt sie mit ernster Miene aus dem Haus, blickt sich suchend um, geht eilig auf den von Gustav Eichner abgestellten dunkelblauen Volvo zu, fixiert die Babyschale. Die beiden steigen ein und fahren davon.
»Fahren oder bleiben?«, will Petar Wollnar wissen.
»Fahren!«, erwidert der Metzger mit Entsetzen im Gesicht. »Das war ein Wagentausch mit Übergabe. Und übergeben wurde der Junge!«
Nach 20-minütiger Fahrt, bei der Petar Wollnar alles
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