Der mieseste aller Krieger - Roman
dem Gedanken, der vertraute Umgang, den die beiden pflegten, müsse daher rühren, dass sie irgendwann einmal etwas miteinander gehabt hätten.
Aber zurück zu dem Schiff, wo Sofanor sich wie ein Affe an einem Seil vorwärtshangelte. Von seinem Versteck an Deck aus verschaffte er sich einen Überblick und musste zugeben, dass der Klipper ein echtes Schmuckstück war. Geduckt wartete er auf das nächste Zeichen. Die Inglesa verwickelte einen der Matrosen mit ihrer strotzenden Weiblichkeit von Land aus in ein Gespräch. Sofort sprangen die anderen Besatzungsmitglieder in ihren Kajüten auf und traten, obschon müde von der täglichen Routine, hinaus, um nachzusehen, was los sei. Die Inglesa sorgte dafür, dass ihr Gesicht unter einer Laterne aufs Beste ausgeleuchtet war, damit niemandem das strahlende Grün ihrer Augen entging. Provokativ wickelte sie sich ein paarSträhnen ihrer sorgfältig gebürsteten Haare um den Finger und hörte nicht auf, den angestachelten Matrosen zuzulächeln. Als sie sich sicher war, dass alle an Deck auf sie konzentriert waren, schwenkte sie kokett ihr Taschentuch wie die Mädchen beim Volkstanz. Das war das Kommando, auf das Sofanor gewartet hatte. Er warf kurz einen Blick hinüber zu den von der Schönheit seiner Geliebten verzauberten Geiferern und robbte dann, einen Leinensack auf dem Rücken, zum Heckraum. Er richtete sich auf und blieb für einige Sekunden reglos stehen, um den Blick auf den Ankerplatz und die Anhöhe dahinter zu genießen, ein traumhaftes Panorama. Dann nahm er rasch die Stufen, die nach unten zu den Kajüten führten. Mit dem Webley Mark VI in der Hand durchsuchte er routiniert die kleinen Schubfächer und ließ kleine Schätze in seinen Sack gleiten.
Unterdessen legte die Inglesa, immer noch lächelnd, eine Hand an die Taille und schwatzte mit den Matrosen darüber, wie schön die Nacht sei und erkundigte sich, was sie auf dem Schiff geladen hätten. Die Männer traten über den Steg auf sie zu, umringten sie und erfanden Heldengeschichten, um sich wichtig zu tun. Staunend hielt sich die Inglesa die Hand vor den Mund und heuchelte mit großen Augen Bewunderung. Derweil suchte Sofanor unter den Polstern nach Wertsachen, und allmählich füllte sich sein Sack mit Schmuck. Mit seinem Messer und dem deutschen Revolver bewaffnet, schlich er sich in die Kapitänskajüte, die größte von allen. Hinter einem Gemäldebefand sich, ganz wie die Inglesa es ihm beschrieben hatte, der Tresor. Ich vermute, dass er dort die Uhr herhatte, Benito, die vergoldete Taschenuhr, die später die Stunde seines Todes anzeigen sollte.
Sobald sie Sofanor mit dem Leinensack voller Schmuck und englischer Pfund auftauchen sah, sprang die Lorenzona auf ihr Pferd und galoppierte in rasendem Tempo auf die Inglesa zu.
»Tut mir leid, Matrosen«, verkündete die Angebetete. »Meine Freundin ist eifersüchtig und kommt mich jetzt holen.«
Die Schiffsbesatzung war entsetzt vom Anblick des herangaloppierenden Mordsweibs mit dem stacheligen Bartwuchs. Die Inglesa griff blitzschnell nach dem Unterarm der Lorenzona, schwang sich hinter ihr aufs Ross und klammerte sich an ihr fest.
»Sie hat uns reingelegt«, schrie ein Matrose von Deck.
Ein anderer rief, man solle sie aufhalten, man habe den Kapitän ausgeraubt. Alle beeilten sich, ihre Kajüten zu durchsuchen. Als sie entdeckten, dass der Tresor leergeräumt war, hatten sich die drei Banditen bereits im Straßengewirr von Iquique verloren.
Hauptbahnhof von Paitanás, 1954
In Paitanás, dieser zwischen Bergen eingezwängten Oase, blies eine frische Brise. Eine von der Sonne ausgeblichene, an den Enden ausgefranste Nationalflagge wehte über dem Bahnhofseingang. Drei Mal am Tag liefen Züge, vollbesetzt mit arbeitsuchenden Pampinos aus der nördlichen Pampa, ein. Dort wie hier schlossen die Salpeterwerke eines nach dem anderen, Benito, weil die Deutschen die synthetischen Nitrate entwickelt hatten, die billiger waren als der natürliche Nitratabbau. Das chilenische Salpetergeschäft war längst nicht mehr rentabel, und die Menschen mussten fortziehen, um sich ihr Brot in anderen Städten zu verdienen.
Ich beobachtete an jenem Morgen voller Ungeduld und Furcht, was López-Cuervo II dort im Bahnhof ausheckte. Die Tita hatte Schulferien, und mit einem dieser Züge sollte sie zusammen mit meiner Flor eintreffen.
Morgens waren die Leute auf die Straße hinausgestürmt, um voller Neugier die Truppe zu bestaunen, die in Paitanás Einzug hielt.
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